
Ernsts Erlebnisse an der Weierhöfer Schule
Der kleine Bruder auf der NAPOLA
Hansjörgs Bruder, Ernst, schafft es irgendwie 1940 in die NAPOLA eingeschult zu werden. Er bringt keine guten Noten von der Volksschule mit, ist nicht besonders sportlich und scheint damit wenig den Auslesekriterien zu entsprechen.
Ernst erzählt, dass jemand, vielleicht sein Vater Hans oder sein Großvater Christian Neff, mit ihm zum Schulsekretariat geht und die Sekretärin Hanne Haury fragt: „Was machen wir denn mit’m Ernstl?“ Irgendwie darf er dann am ersten Schultag vorbei kommen. Als einziger der neuen Schüler hat er zu Schulbeginn keine Anstaltsuniform und sticht die ersten Wochen etwas aus der gleichmäßigen Masse hervor.
Ernst darf bleiben, die Noten verbessern sich nicht und in jedem Zeugnis wird er ermahnt, sich mehr anzustrengen. So steht in einem Zeugnis von 1944: „Ernst muss sich sauberer halten. Er muss schöner schreiben und sich im Ganzen überhaupt verbessern.“
Wie auch zuhause, läuft er irgendwie mit. Sein Großvater, von ihm und den anderen Enkeln „Opapa“ genannt, gibt ihm Nachhilfe. Besonders Latein scheint gar nicht zu klappen und so üben die beiden Deklinationen und Konjugationen. An „amo, amas, amat, amamus, amatis, amant“ erinnert er sich noch im hohen Alter.
Die Weierhöfer Schule
Im Frühling 1935 beginnt Ernsts zehnjähriger Bruder, Hansjörg, als Sextaner seine Schullaufbahn an der Realanstalt am Donnersberg.
Hansjörg und später Ernst sind Tagesschüler, eigentlich eine Ausnahme, da die allermeisten Schüler im Internat leben. Verschiedene Familienmitglieder hatten und haben einen starken Einfluss in der Schule. Ihr Großvater, Ernst Göbel, hatte die Schule über 40 Jahre geleitet und nachhaltig geprägt. Er vertrat christlich-konservative Werte, jedoch nicht im mennonitisch-traditionellen Sinne von Wehrlosigkeit, sondern eher im Sinne des preußischen Protestantismus, einer Vermischung von christlichem Glauben mit Vaterlandsliebe, Heldentum, Zucht und Ordnung. Großonkel, Gustav Göbel, ist nun 1935 alleiniger Schulleiter und führt die Realanstalt auch im Sinne seines Bruders Ernst weiter.
Die Realanstalt ist eine private Stiftung und führt als Knabenschule ihre Schüler zum Abschluss der mittleren Reife. Ihr Selbstverständnis wird im Bericht zum Schuljahr 1935/36 wie folgt dargelegt:
Im Sinne ihrer Stifter möchte sie Knaben und Jünglingen helfen, die ihre Ausbildung nicht unmittelbar vom Elternhaus aus erlangen können oder solchen Schülern, deren Eltern sich der Erziehung nicht zu widmen vermögen oder die eine höhere Schule nur in längerer, häufig schädlich sich auswirkender Bahnfahrt erreichen können; Stadtkindern, denen zu gedeihlicher Entwickelung kräftige Landluft fehlt und nicht zuletzt einzigen Kindern, die sich in eine Lebensgemeinschaft mit Altersgenossen sollen einfügen lernen. Solchen Kindern vor allem will sie in körperlich und seelisch gesunder Luft und landschaftlich schöner Umgebend bei echter Kameradschaftlichkeit des Zusammenlebens ein frohes, aber auch von ernster Arbeitspflicht von Vaterlands- und Einigkeitskräften getragenes Jugendleben bieten und in ihnen das Streben wecken, schlichte, pflichttreue Menschen, verantwortungsbewußte Deutsche und aufrechte Christen zu werden.
Zu dieser Zeit zeichnen sich zwei Dinge für die Realanstalt ab. Zum einen ist die wirtschaftliche Lage prekär; notwendige Investitionen wurden lange zurückgestellt, erscheinen aber nun umso dringender, jedoch nicht finanzierbar. Zum anderen stehen Privatschulen unter Druck. Die vom NS-Regime betriebene Gleichschaltung erreicht den Bildungssektor und die freie Trägerschaft der Schule ist damit in Gefahr. Gauleiter Bürckel drängt im März 1936 auf die Errichtung einer nationalsozialitischen Eliteschule im Gau Saarpfalz und wirft sein Auge auf den Weierhof. Die bisherige vaterländische Ausrichtung und der Umstand, dass eine Privatschule in eine staatliche Schule umgewandelt werden kann, sind wohl entscheidend für die Wahl des Gauleiters. Im Jahrbuch der Schule von 1936/37 heißt es dazu:
Bald darauf wurde unser Berichterstatter zu unserem Gauleiter nach Neustadt a.W. bestellt. Der Gauleiter teilte mit, es solle im Gau Saar-Pfalz eine nationalsozialistische Schule errichtet werden; es handle sich nun darum, ob der bisherige Träger der Schule, der Verein R. a. D. [Realanstalt am Donnersberg], bereit sei, letztere zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen. Das tat der Verein, wenn auch schweren Herzens, da ihm „seine Schule“ durch manches Opfer und viele Sorge, aber auch durch die freudige Würdigung, die ihre Arbeit überall in der Pfalz und drüber hinaus gefunden hatte, naturgemäß ans Herzen gewachsen war. […]
Zum ersten Mal haben wir in diesem Jahr zugleich auf einer neuen wirtschaftlichen Grundlage arbeiten können. Der Kreis hatte für das letzte Schuljahr für neueintretende, würdige und bedürftige Schüler 14 Freistellen bewilligt. Eine gewaltige Bautätigkeit setzte im ganzen Anstaltsgebiet ein. Es wurde der Hofwiesenbach in ein neues Bett geleitet, notwendiges Land angekauft, vieles Alte wurde verändert und vieles Neue geschaffen. Zweimal konnte bereits Hebefeier in der Anstalt gefeiert werden zur wohlverdienten Freude der fleißigen Arbeiter und tüchtigen Meister.
Als das zweite Schuljahr für Hansjörg beginnt, findet er sich in der neuen Gauoberschule wieder, die nun den Abschluss Abitur anbietet, der zum Studum an einer Universität berechtigt.
Bereits 1930 muss die Realanstalt notgedrungener Weise ihre Toren für Mädchen öffnen. Die höhere Töchterschule in Krichheimbolanden wird Opfer der globalen Wirtschaftkrise und wird geschlossen. Man sucht dringend nach aufnehmenden Schulen für die Schülerinnen. Wenig begeistert, moralisch jedoch verpflichtet einer in Not geratenen, höheren Schule helfen zu müssen, stimmt der Schulverein der Aufnahme einiger Schülerinnen zu. Somit können auch in späteren Jahren Mädchen den Schulbesuch an der ehemaligen Knabenschule anstreben, sie bilden jedoch eine sehr kleine Minderheit. Renate, die Schwester von Hansjörg und Ernst, kann daher ebenfalls in die Realanstalt eintreten. Aber schon im nächsten Schuljahr muss sie die Schule verlassen. Die neue Gauoberschule verweist alle Mädchen von der Schule. Ernst, wird 1940 in die Gauoberschule aufgenommen.
Mitten in Hansjörgs letztem Schuljahr, wird die Gau-Oberschule zu einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (N.P.E.A. oder auch NAPOLA genannt). Die Rhein–NSZ-Front vom 11. April 1936 titelt dazu: „Ein Ostergeschenk für die Jugend. Nationalsozialistische Musterschule am Donnersberg – Gleiche Möglichkeit zur höheren Schulbildung für alle.“
Offiziell ist die Schule nun dem Reicherziehungsministerium unterstellt, allerdings vergrößert sich der Einfluss der SS auf die NAPOLA-Schulen im Reich ständig. Die Schüler, nun Jungmannen genannt, werden zunächst in das Jungvolk und nach ihrem vierten Schuljahr am Weierhof in die Hitlerjugend aufgenommen. Nach bestandenem Abitur treten sie in die NSDAP ein. Die Schule vollzieht diese Eintritte feierlich für alle Schüler. Neue Schüler werden nach dem Ausleseprinzip der SS ausgewählt. Hierbei stehen rassische, charakterliche und körperliche Merkmale im Vordergrund. In Der SS-Staat beschreibt SS-Führer Eugen Kogon das Ausleseverfahren:
Die Auslese der neuen Führerschaft vollzieht die SS – positiv durch die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten […] als die wahren Hochschulen der kommenden nationalsozialistischen Aristokratie […] – negativ durch die Ausmerzung aller rassenbiologischer minderwertiger Elemente und die radikale Beseitigung jeder unverbesserlichen Gegnerschaft, die sich grundsätzlich weigert, die weltanschauliche Grundlage des nationalsozialistischen Staates und seine wesentlichen Einrichtungen anzuerkennen.
Als Tagesschüler kann man dem strengen Alltag der Internatsschüler etwas entfliehen. Für sie ist der Tagesablauf von 6 Uhr in der früh bis 22 Uhr durchgeplant. Nur zwei Stunden am Mittwochnachmittag und sonntags gibt es die Gelegenheit zur freien Verfügung. Die Nachmittage sind von Sport, organisierten Spielen und Übungen im Gelände bestimmt. Aus den Erzählungen von Ernst ist zu schließen, dass auch die Tagesschüler an den Nachmittagsaktivitäten teilnehmen.
Wurden Positionen im Vorstand des Trägervereins bereits mit Übernahme als Gau-Oberschule mit Repräsentanten aus Partei und Staatsverwaltung besetzt, so untergeht der Lehrkörper der NAPOLA einer hohen Fluktuation und Neueinstellungen werden nach Gesinnung vorgenommen. Dies ist teilweise der Tatsache geschuldet, dass Lehrer ab Kriegsbeginn zum Soldatendienst eingezogen werden, zum andern dem Umstand, dass ein stetiger Wechsel, besonders der Leitungspositionen erwünscht ist. Von 1938 bis zur Auflösung der Schule 1945 gibt es drei aufeinanderfolgende Schulleiter.
Schanzenarbeiter im Dienste des Vaterlands
Im Herbst 1944 werden erste Schulklassen an die NAPOLA in Backnang evakuiert, zuerst die unteren Klassen; bis Mitte März 1945 alle Klassen. Es gibt kaum noch Unterricht. Ebenfalls im Herbst werden ältere Schüler, darunter auch Ernst, zum Schanzen, also zum Ausheben von Gräben, an den Westwall zwischen Saarland und Lothringen geschickt.
Als es zum Schanzen geht, ist Ernst gerade 15 Jahre alt und in der 8. Klasse – an der NAPOLA heißt die Klasse 4. Zug. Im Rentenalter tragen er und seine damals 13-15-jährigen Schulkameraden ihre Erinnerungen dazu zusammen:
Nach den Sommerferien 1944 sollten wir am Bodensee einen Segelkurs absolvieren, was aber wegen des Verrats der Italiener unter General Badoglio [beteiligt am Sturz Mussolinis] und der damit verbunden Beschlagnahmung aller Zugstrecken nach Süden unmöglich wurde. Stattdessen wartete auf uns ein neuer Befehl: Schanzen am Westwall, obwohl von uns niemand das Mindestalter von 16 Jahren erfüllte. Wir jubelten, fiel doch die Schule weg, und wir kamen Ende August an die mit Apfelbäumen bepflanzten Saarufer bei Merzig, nach Saarfels, wo man nachts die Artillerie von Metz her grummeln hörte […]. Wir hoben Laufgräben zu den Bunkern oder Artilleriestellungen aus […]. (Otmar Lahr, damals 14 Jahre alt)
Da unsere Gruppe aus verschiedenen Jahrgängen bestand (1929-1932), mussten drei zurück in die Anstalt nach Weierhof, da sie zu jung waren. Unterwegs wurden sie in einem Personenzug von Jabos [amerikanische Jagdbomber] beschossen […] und trafen Fritz Gräser mit einem tödlichen Schuss […]. Daraufhin wurde die Klasse „Fritz-Gräser-Klasse“ genannt.
Plötzlich gab es einen Knall […] und ein ohrenbetäubendes Geräusch flog über uns hinweg. Am darauffolgenden Sonntag machten wir einen Ausflug […]. Ein Trichter in den Baumwipfeln und ein abgebranntes Raketenrohr verwiesen auf eine V1-Absturz. (Hermann Jenet, damals 14 Jahre alt)
Als das ca. 40 km entfernte Saarbrücken in der Nacht vom 5. Oktober 1944 zu 90% in Schutt und Asche gelegt wurde, gab es auch für uns Alarm. Von unseren Schützengräben aus sahen wir den glutroten Himmel über Saarbrücken, hörten den mächtigen Donner der Explosionen. (Karl Stephan, damals 13 Jahre alt, seine Familie lebte in Saarbrücken)
Ernst erzählt in ähnlicher Weise wie seine Schulkameraden. Ein für ihn besonderes Ereignis ist eine medizinische Untersuchung, denn dort erfährt er, dass er einen Situs Inversus hat, d.h. dass alle Organe spiegelverkehrt in seinem Körper angeordnet sind. Eine seltene Anomalie, die ihn sein Leben lang interessant für Ärzte macht. Als er schon über 80 Jahre alt ist, antwortet er auf die Frage eines Kardiologen: „Seit wann wissen Sie, dass sie Situs Inversus haben?“ mit: „Ei, seit’m Schanze.“
„Evakuierung“ ins Kleine Walsertal
Nach den Weihnachtsferien kehren einige Schüler nicht mehr zurück. Ihre Eltern wollen ihre Jungs in dieser chaotischen Lage zu Hause wissen, andere kehren jedoch auf den Weierhof zurück. Ernsts Eltern lassen ihn ziehen – der Fünfzehnjährige will mit.
Am 7. März 1945 überschreiten die amerikanischen Streitkräfte bei Remagen den Rhein. Ein Ereignis, das die vollständige Evakuierung der Schule mit auslöst. Von Backnang aus sollen die Jungmannen in der Alpenfestung die Wende des Kriegsglücks abwarten. Zunächst noch mit ihren Lehrern und Erziehern machen sie sich auf den Weg. Unterwegs lassen die Erwachsenen die Kinder im Stich. Im Kleinen Walsertal angekommen, sind sie auf sich alleine gestellt.
Ernst berichtet von der „Evakuierung“ und dem Marsch in die Alpenfestung:
Eine Evakuierung der damaligen NAPOLA Donnersberg war schon im Vorfeld der Ereignisse des Jahres 1944 geplant. Die Schule in Backnang [ebenfalls NAPOLA] war als Auffangschule vorgesehen, und viele bewegliche Teile, Nahrungsmittel, Kleiderkammer, Unterrichtsmaterial, sogar Pferde samt Wagen hatte man dorthin gebracht.
Ernst ist dabei, als Mitte März 1945 die letzten Schüler nach Backnang evakuiert werden. Ein paar Jungmannen, darunter er, fahren mit dem Rad. Sie organisieren sich Fahrräder beim auf dem Weierhof einquartierten Reichsarbeitsdienst. Da diese aber in einem schlechten Zustand sind, müssen sie schon auf der Wormser Rheinbrücke Reifen flicken. Nach drei Tagen erreichen sie Backnang. Dort werden sie in einem riesigen Schlafsaal untergebracht, in dem auch der Unterricht sporadisch stattfand.
An einem Tag war der Himmel voller Flugzeuge, es muss wohl der Angriff auf Heilbronn gewesen sein. Ob wegen des Näherrückens der Front oder ob es im Voraus so geplant war, […] wir sollten weiter ins Allgäu verlegt werden. Zwei Pferde und der Wagen sollten auch mit […] Heinz Metz, Reinhold Keller und ich waren dazu bestimmt, oder wir hatten uns gemeldet, ich weiß es nicht mehr. […] Ich glaube mich an Schmalz- und Marmeladeneimer zu erinnern, sicher auch Brote. […] Irgendwo unterwegs trafen wir auf eine Gruppe vom 5. Zug, die auch mit einer Kutsche unterwegs war, diese haben sie aber selbst geschoben und gezogen.
Einmal entschlossen wir uns zu versuchen, am Tag zu fahren […], auf einmal waren die Jabos da […]. Glücklicherweise hatten sich die Flugzeuge ein anderes Ziel ausgesucht. Bald nachdem wir in Bayern waren, sahen wir deutsche Flieger, es war wohl ein Flugplatz in der Nähe. Wir waren uns sicher, dass es Düsenflieger waren, sie waren so schnell und auch das Motorengeräusch war anders. Welcher Typ, weiß ich nicht mehr, auf alle Fälle waren wir sehr beeindruckt – von der Geschwindigkeit und den Flugeigenschaften –, was aber wieder gemindert wurde, als wir auch zwei Detonationen hörten und Rauchsäulen aufstiegen. Es muss wohl einer abgestürzt sein.
Wann wir nach Oberstdorf kamen und wieder zu unserem Haufen stießen, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Ich kann mich an einen freien Platz erinnern, in der Nähe war ein Gebäude, wo wir etwas zu essen bekamen, und wo wir am 20. April Hitlers Ansprache zu seinem Geburtstag im Radio hörten, mit dem bekannten Zitat: „Wien wird wieder deutsch, und Berlin bleibt deutsch“.

Zehn Tage später erschießt sich Adolf Hitler in seinem Führerbunker in Berlin.
Eines Tages hieß es, wir sollten nach Sonthofen fahren, dort auf der Ordensburg [Adolf-Hitler Schule] seien Sachen abzuholen. […] Wir hatten schon vorher einige Tiefflieger gehört und als wir die Straße zur Burg hochfuhren, griffen diese an. […] Auf dem Heimweg sahen wir tote Pferde und zerschossene Wagen dort liegen. Wir machten, dass wir unsere Sachen verluden, um möglichst schnell wieder von dort wegzukommen.
Erst zu viert, dann zu zweit und zum Schluss alleine nach Hause
Zu viert machen sie sich auf den Weg, vom Kleinen Walsertal nach Hause. Es sind: Joseph Gabriel und sein jüngerer Bruder, Peter (nicht abgebildet), Horst Gröhl und Ernst. Folgen wir Ernsts Erzählung:
Wann der erste Gedanke kam, sich auf den Nachhauseweg zu machen, weiß ich nicht mehr. Es wurde gesagt, dass die von Jahrgang [19]29 möglicherweise als wehrpflichtig angesehen würden und deshalb als Kriegsgefangene behandelt würden. So waren sie die ersten, die einen Teil ihrer Sachen packten und so gut es ging, als Zivilisten sich auf den Nachhauseweg machten.
Aus der Zeltplane hat Stanislaus, unser polnischer Schuster, Rucksäcke gemacht. So zogen wir dann los. In Gruppen zu dritt oder viert fanden wir uns zusammen. Mit mir gingen Joseph und Peter Gabriel [beide aus Lothringen] und Horst Gröhl [aus Kaiserslautern]. In der Nacht zum 1. Mai gingen wir los, nicht über die Straße, sondern den Hörnlepass, um Oberstdorf auszuweichen. In der Nacht vorher und am Tag hatte es geschneit und es lag tiefer Schnee am Pass. Am nächsten Morgen waren wir auf der westlichen Seite des Passes und konnten sehen, wie die ersten Panzer und Fahrzeuge die Walserstraße Richtung Riezlern zogen. […]
Wir kamen dann zu dem Entschluss, uns in Fischen den Franzosen zu melden. Da die beiden Brüder Gabriel etwas französisch sprachen, hofften wir auf irgendeine Weise Papiere zu bekommen. [Wir] wurden mit einem Trupp Soldaten und anderen nach Sonthofen gebracht, dort war ein Lager eingerichtet worden.
Im Lager sind deutsche Kriegsgefangene und eine kleine Gruppe Jugendlicher aus Elsass-Lothringen, die im Arbeitseinsatz in Bayern gewesen waren. Joseph Gabriel stellt sich, seinen Bruder und die beiden anderen als Lothringer vor. Das erscheint ihnen sicherer, denn Lothringen war vor der deutschen Besetzung französisch gewesen. Sie erhalten die Antwort: „Alors, il faut vous rapatrier!“ Damit werden sie zusammen mit den Jugendlichen auf einen Lastwagen gesetzt und nach Strasbourg gefahren. Dort angekommen, werden sie in ein Durchganglager für „Rapatriés“ verbracht; eine Schleuse, die jeder, der nach Frankreich zurück möchte, passieren muss. Als erstes werden sie entlaust.
In Straßburg wurden wir gefragt, wo wir hin wollten. […] Horst und ich wollten in die Pfalz. […] Im Büro saßen zwei Frauen, die schauten sich an und fragten: „Ja, was machen wir nun mit euch?“ Wir wussten es auch nicht, nur dass wir weiter wollten. Nach einigem hin und her brachten sie heraus, dass ein Konvoi nach Karlsruhe fuhr, der uns mitnehmen sollte.
In Karlsruhe setzen sie uns raus, und wir waren wieder auf uns alleine gestellt. […] Als wir uns von Joseph und seinem Bruder trennten, bat ich ihn, mir noch einiges auf Französisch aufzuschreiben. […] Ich erinnere mich noch an: „Je suis un Palatinat.“
Vor der Kommandantur in Karlsruhe stand ein Posten. Wir brachten unsere Bitte vor: „laisser-passer“ […]. Auf jeden Fall sollten wir in ein paar Tagen wieder nachfragen. […] wir kamen in einem Keller einer Lebensmittelhandlung unter, dort konnten wir in einem Raum schlafen und bekamen auch etwas zu essen. Eines Tages war es soweit, wir bekamen unseren Passierschein und tippelten los in Richtung Rhein, die Brücke war natürlich zerstört und lag im Fluss. Es gab aber eine Ponton-Brücke, und als wir darüber waren, waren wir wieder in der Pfalz. […] Irgendwo in der Nähe von Neustadt [an der Weinstraße] sahen wir die ersten Amerikaner. In Neustadt trennten sich unsere Wege, Horst wollte ja nach Kaiserslautern.
In der Nähe vom Deidesheimer Hof [Spitzenrestaurant in Deidesheim, später essen hier Reagan, Gorbatschow und andere Staatsoberhäupter] stand am Straßenrand ein Auto […]. Ich fragte, ob ich in Richtung Grünstadt mitfahren könne. Es war der Wagen eines Barons von Heyl, damaliger Bürgermeister von Worms. Sie nahmen mich mit bis Asselheim, von dort musste ich über den Berg, es war nicht mehr so weit. […] In Marnheim war es dann 9 Uhr [abends] und jemand sagte zu mir: „Nun ist gleich Sperrstunde.“ Ich dachte, den Kilometer schaffst Du auch noch. Als ich am Weierhof um die Ecke bog, stand Renate [Ernsts Schwester] am Fenster und rief: „Das Bollerlottchen kommt!“, da wusste ich, dass ich wieder zu Hause war.