
Johannes Driedger
Wir lernen Johannes kennen und lassen ihn auch selbst erzählen – ein passionierter Landwirt, begeisterter genossenschaftlicher Leiter, überzeugter Mennonit, Prediger und fest verwurzelt in der mennonitischen Tradition Westpreußens. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges macht er sich auf den Weg einer langen und dramatischen Flucht und findet eine neue Heimat auf dem Weierhof.
Kindheit und Jugend in Gnojau
Johannes Driedger wächst auf einem Bauernhof in Gnojau, Westpreußen (heute Gnojewo, Polen) auf. Die Eltern sind Mitglieder der Mennonitengemeinde im nahegelegenen Heubuden (heute Stogi, Polen). In seiner Kindheit sitzen wohl manchmal drei Generationen am Tisch.
Die Großeltern, die die preußische Ständegesellschaft und deren feudale Strukturen im ländlichen Raum erlebt haben, sich als religiöse Minderheit von der weltlichen Mehrheitsgesellschaft abkapseln, die Geld aufbringen müssen, damit die Gemeinde ihre jungen Männer von der Wehrpflicht freikaufen kann. Ganz anders die Eltern, aufgewachsen als gleichberechtigte Bürger im preußischen Staat, die einen rasanten industriellen, wissenschaftlichen, imperial-nationalistischen Aufbruch um sich herum erleben.
Als es Zeit wird, in die Schule zu gehen, möchten die Driedgers ihren Ältesten im Winter nicht über die vereisten Wege in den Ort schicken. Sie sind auch wenig begeistert vom oft betrunkenen Lehrern und ergreifen die Initiative, eine private Hausschule zu gründen, bei der auch bald Geschwister und Kinder anderer Familien teilnehmen. Vier Jahre lang unterrichten verschiedene angestellte Erzieherinnen und Lehrerinnen die Kinder.
Anfangs August kam dann die dritte Kindergärtnerin zur Stelle. Sie hatte auch nicht viel von Pädagogik weg, war aber pflichtbewusst und recht gestrenge im Unterricht. Besonders im Rechnen und im deutschen Sprachunterricht hat sie uns eine gute Grundlage gegeben. Sie wusste sich bei den Buben Respekt zu verschaffen und drillte uns nachhaltig in den Anfangsgründen des Schulwissens.
1900 wird die Hausschule aufgelöst und die Kinder besuchen die öffentliche Volksschule. Johannes beendet drei Jahre später die Schule. Von 1901 bis 1904 erhält er zusätzlich Privatunterricht. 1906/07 besucht er die landwirtschaftliche Winterschule in Marienburg (heute Malbork, Polen) und macht eine Ausbildung im elterlichen Hof.
Um 6 ½ bzw. um 7 Uhr begann gewöhnlich für mich die Arbeitszeit und dauerte mit Unterbrechung von ½ Stunde Mittagszeit und ¼ Stunde Vesperzeit bis zum Sonnenuntergang. Es war für mich unverständlich, dass niemals aufgearbeitet wurde. Man konnte sich noch so beeilen. Vater hatte immer noch was vor. […] Und trotzdem habe ich es niemals bereut, dass ich Landwirt geworden bin. Weil ich an sich gut lernte, wollte Großvater Regier mich durchaus dazu bewegen, Volksschullehrer zu werden. Er bot sich an, mein Studium zu bezahlen. Ich lehnte es strikt ab, mich lebenslang mit Schulweisheit zu beschäftigen. Um freie Lebensentfaltung ging es in meinem Sinn.
Trotz seiner Ablehnung des Studiums ist die intellektuelle Auseinandersetzung für Johannes ein Lebensthema. Sein Wissensdrang ermöglicht ihm erfolgreich einen großen Betrieb zu führen und leitende Positionen in großen genossenschaftlichen Vereinigungen zum Wohle der Mitglieder zu übernehmen. Zudem ist er eine wichtige Stimme als Prediger und Verfasser von Reden und Artikeln in mennonitischen Zeitschriften.
Die Mennoniten sind eine geschlossene Gemeinschaft. Dies prägt das gesellschaftliche Leben von Jung und Alt. Johannes mag die gemeinsamen Feste.
Gesellschaftlich hatten wir einen regen Verkehr im Familienkreise. Die Geburtstage wurden im Nachbar- und Geschwisterkreise gefeiert. Zu den Geburtstagen der Großeltern kamen dann noch deren Nichten und Neffen mit ihren Familien, der Kreis wurde dann recht groß. Dienstpersonal war in meiner Jugend reichlich angeboten. Die Leute waren in Armut aufgewachsen und anspruchslos. Verlobungen hatten durch die beiderseitigen Verwandten schon einen etwas größeren Rahmen als Geburtstage. Hochzeiten mit einem Kreis der Geladenen (bis zu 200 Personen) waren nicht selten. In der Woche kamen viel junge Leute helfen beim Schlachten, Kornspeicher festlich zu Gesellschaftsräumen umzugestalten, durch Scheuern und Ausgrünen, Girlanden zu winden zum Bekränzen der Türen, eine Ehrenpforte für das junge Paar und die Gäste zu bauen, die alle mit eigenen Fuhrwerken anrollten, Vorrichtungen zur Aufnahme der Pferde herzurichten und anderes mehr. Diese mit jugendlichem Frohmut und der Hochstimmung im Hochzeitshause getragenen Vorbereitungen waren manches Mal schöner als das Hochzeitsfest.
An öffentlichen Festen und Bällen durften wir dagegen nicht teilnehmen.
Weil die Mennonitengemeinden in Westpreußen durch den Zusammenschluss von Siedlerfamilien entstanden waren und von diesen Familien allein getragen wurden, bin ich in unser religiöses Leben geradezu hineingewachsen. Von meinem Elternhaus in Gnojau bis zu unserer Kirche in Heubuden hatten wir ungefähr 7 km Landweg zu fahren. Dieser Weg war allerdings im Winter manchmal nicht passierbar. Bei fahrbaren Wegen und gesunder Familie wurde sonntags gewöhnlich zur Kirche gefahren. Wenn die Kinder so weit waren, dass sie stillsitzen konnten, nahmen die Eltern sie zur Kirche mit.
Wir besuchten durchweg die evangelisch-lutherischen Volksschulen, der Religionsunterricht führte uns in die lutherische Dogmatik hinein, und die meisten Mennoniten kamen davon nicht mehr los. Zum Taufunterricht […] wurden [wir] auf unsere religiöse Sonderstellung aufmerksam gemacht. Sie bestand in der Selbstständigkeit der Einzelgemeinde, in der Ablehnung des Eides […]. Wir wurden auf das Bekenntnis des Glaubens getauft. Die 14- bis 16-jährigen Täuflinge waren sich der ganzen Tragweite ihrer persönlichen Verpflichtung kaum bewusst. Wenn ich an mir Maß nehme, bin ich in diese Verpflichtung aber hineingewachsen […].
Johannes‘ Neffe Ortwin erzählt von Gnojau
Auf nach Heubuden
Die Heubudener Mennonitengemeinde ist ein Treffpunkt für Jung und Alt. Man lebt verstreut auf den Höfen, aber sonntags trifft man sich beim Gottesdienst. Johannes lernt dort Magdalena Klaaßen (1893-1949), genannt Magda, kennen und verliebt sich.
Im Jahre 1914 fand ich in Magdalena Klaaßen, Heubuden, meine Lebensgefährtin. Sie war ein Mädel mit einem reichen, warmen Gemüt und mit einem festen manchmal krankhaften Willen. Die Vorzüge und die Schwächen der Menschen liegen ja immer hart nebeneinander. Sie war bereit, mir alles zu geben – und wollte mir alles sein. Mein Gesichtskreis wurde durch den ganz nahen Einblick in die innere Welt meiner geliebten Lebensgefährtin wesentlich erweitert. Bei aller Zuneigung konnte ich allerdings mein Wesen nicht ganz aufgeben. Je älter man wird, umso ausgeprägter wird der Charakter – immer wieder haben wir zusammengefunden, eine besondere Wärme lag jedes Mal über der wiederhergestellten Harmonie. Kurz vor ihrem Tode, als ich sie zum Umbetten zum letzten Male warm im Arm hielt, umschlang sie mich warm und sagte: Du lieber Mann – was wäre ich ohne dich gewesen! Von mir aus gesehen, liegt es ebenso. Des Lebens Lust und Leid stellten auch in unserer Ehe einen Lebensreichtum her, den ich nicht vermissen wollte. Ich habe es an den unverheirateten Geschwistern meines Vaters erfahren, dass man engherzig wird, ohne es zu wissen und zu begreifen, wenn man sich nur im eigenen Geschwisterkreise bewegt in der Welt, die einem wirklich nahe geht.


Die beiden heiraten 1914 und übernehmen den 80 Hektar großen Hof von Magdas Eltern, gelegen an der Bahnlinie Berlin – Königsberg (heute Kaliningrad, Russische Föderation). Der bereits als „Bahn-Klaaßen“ bekannte Hof wird bald „Bahn-Driedger“ genannt. 1928 pachtet Johannes den nahegelegenen Nonnenhof vom Institut der Barmherzigen Schwestern in Kulm (heute Chełmno, Polen) und vergrößert so die landwirtschaftliche Nutzfläche auf 110 Hektar.
Die Familie
Im Hause Driedger werden Familienfeste gefeiert. Anlässe gibt es genug, von Geburtstagen und Hochzeiten bis hin zu Beerdigungen.
Das Haus war damals noch in vollem Umfange die Pflanzstätte des Lebens von der Geburt bis zum Tode. Auch die sonstigen Familienfeste bis hinauf zu den Hochzeiten wurden in meinen Jungendtagen noch durchweg auf dem heimatlichen Hofe gerüstet und abgehalten. Das ganze Gehabe der einzelnen Familien kam dadurch mehr zum Ausdruck. Unsere Hochzeit fand allerdings schon in der Gartenwirtschaft Esau-Kalthof und im anschließenden paulischen Saale, die Trauung in der Heubudener Kirche statt. Das war auch durch die ganze soziale Lage der Zeit bedingt. Hausgehilfinnen und andere dienstbare Geister standen uns damals in ausreichendem Maße zur Verfügung. Andererseits wurde dadurch bares Geld gespart, ohne dass man das bei den Feierlichkeiten merken musste.
Johannes und Magda haben fünf Söhne. Herbert, der Älteste, stirbt als Baby, nur ein paar Wochen alt. Seine Brüder Reinhard, Günter, Harald und Eckbert wachsen heran und in den elterlichen Betrieb hinein. Alle vier wollen und sollen einmal einen eigenen Hof bewirtschaften. Aber dann kommt der Krieg, Reinhard wird schon in den ersten Kriegstagen schwer verwundet, Günter und Harald überleben ihre Einsätze an die Ostfront nicht. Johannes beklagt den Tod seiner beiden Söhne:
Was wiegen schon alle Opfer an materiellen Gütern, die uns auferlegt wurden, gegenüber dem Verlust dieser beiden Söhne gerade für uns Eltern.
Ab 1944 werden 15-jährige zum Kriegsdienst eingezogen. Eckbert, der Jüngste, geboren Ende 1929, entgeht nur knapp einem Einsatz an der Front. Ein paar Monate älter, und er hätte wahrscheinlich den Einzugsbefehl erhalten. Aber schon im Januar 1945 kommt die Front nach Westpreußen und nichts ist mehr, wie es einmal war: Johannes, Magda und Eckbert müssen ihr Zuhause verlassen und sich dem endlosen Flüchtlingsstrom anschließen.
Prediger und mennonitischer Influencer
Aus der Familie Driedger werden nacheinander Vertreter von drei Generationen in das Predigtamt der Gemeinde Heubuden gewählt. Diese sind 1878 Peter, der Großvater von Johannes, 1906 Julius, sein Vater, und 1935 Johannes selbst.

Mit der Verkündigung des Wortes werden traditionsgemäß Mitglieder aus der Mitte der Gemeinde auf Lebenszeit gewählt, die zu Gottesdiensten, Hochzeiten und Beerdigungen die Predigten halten. Johannes versieht seinen Dienst sein weiteres Leben lang. Er spricht von der Kanzel der Heubudener Kirche. Nach seiner Flucht durch Westpreußen kehrt er zurück nach Heubuden und hält im Spätsommer und Herbst 1945 die Trauerreden für die Toten der Zurückgekehrten. Er predigt in den Gemeinden, an die er sich im Westen nach seiner zweiten Flucht anschließt, und hält Gottesdienst in den Notunterkünften der heimatvertriebenen Glaubensgeschwister.
Johannes hält Vorträge und schreibt Artikel in mennonitischen Zeitschriften, die über seine theologische Arbeit als Prediger hinausgehen und seine Einstellungen zum Mennonitentum in Politik und Gesellschaft darlegen. Bei einem Vortrag an einem Heubudener Gemeindeabend 1938, der in den Mennonitischen Blättern veröffentlicht wird, zieht Johannes Parallelen zwischen den Traditionen der preußischen Mennoniten und nationalsozialistischen Idealen. Zum einen argumentiert er völkisch und hebt den „germanischen Charakter“ der Mennoniten hervor, zum anderen stellt er das Wohl der Gemeinschaft über das des Einzelnen. Damit verknüpft er seine mennonitische Prägung nahtlos mit dem nationalsozialistischen Gedankengut.
Wer aber das Raunen am häuslichen Herde eines bewußt mennonitischen Hauses verspürt hat, wer dem Einfluß des Volkstums ausgesetzt war, wer sich selbst bei dem Zuge zur Gemeinschaft ertappte, der unter den Begriff ‚Rassebewußtsein‘ fällt, der weiß, daß diese Stimme auch dem Anfang unseres Glaubens, unserm Wesen, nur zu gelegen kam. […] Unsere Mennonitengemeinden sind also nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern auch eine Stammesgemeinschaft rein germanischen Charakters.
Diese Quelle der Lebenskraft [das Wort Jesu], sie hat von jeher unser Gemeindeleben durchdrungen […]. Sie hat die Vereinigung von einigen tausend Menschen jahrhundertelang hindurch geführt durch einen grenzenlosen politischen Wirrwarr – unter der widerspruchsvollen Herrschaft Danziger Handelsherren, polnischer Starosten [Verwaltungsbeamter der polnischen Krone], preußischer Kabinettsräte. Immer wieder gab der Schaffensdrang, der zum Dienst führt, unsern Vorfahren Kraft zur Erhebung, – ob Deichbrüche ihre Ernten vernichten – ob schwedische oder polnische, französische oder russische Truppen ihre Aecker verwüsteten, ihre Höfe beraubten, ob politische Kirchen sie steuerlich knechteten und veranlaßten, daß völkische Werte vernichtet wurden […]. Das Walten dieses Dienstes war nicht vergeblich. Es führte uns hindurch bis zu dem Aufbruch unseres ganzen deutschen Volkes zu einem gewaltigen Ringen um Befreiung des Lebens, um wahrhaftigen Glauben in unsern Tagen.
Genossenschaftler
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verschiebt sich der Fokus mennonitischer Höfe in Westpreußen immer mehr von der Selbstversorgung hin zu einer erfolgs- und wachstumsorientierten Betriebsführung, die sich dem regionalen, überregionalen und sogar internationalen Wettbewerb stellt.
Die Mennoniten, geprägt von ihrem religiösen Leben und geübt in gemeinschaftlicher Organisation und Kooperation, engagieren sich in den entstehenden landwirtschaftlichen Verbänden und Genossenschaften und übernehmen dort führende Positionen. Gerade vor dem Hintergrund ihrer Assimilation in die weltliche Gesellschaft und der wachsenden Bedeutung der gewinnorientierten Führung ihrer Betriebe, sind sie durch ihre Prägung prädestiniert, das Potenzial dieser Organisationsformen zu erkennen, sie tatkräftig zu unterstützen und in die Leitung zu drängen.
1933 gibt es im Deutschen Reich über 30.000 landwirtschaftliche Einzelgenossenschaften, die sich über ihre Entwicklung hinweg auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene organisiert haben – sie stellen damit eine wichtige politische Kraft dar. Anstatt sie zu verbieten, wie das Regime gegen andere Berufsverbände vorgeht, werden die landwirtschaftlichen Genossenschaften in die Ideologie des Nazi-Regimes von „Blut und Boden“ eingebunden und noch 1933 im Reichsnährstand gleichgeschaltet. Durch die Kontrolle der Produktion, des Vertriebs und der Preise im Agrarbereich sollen Einkäufe auf dem Weltmarkt (Deviseneinsparung im Ernährungssektor zugunsten kriegswichtiger Ausgaben) verringert und die Selbstversorgung der Bevölkerung erhöht werden, was aber nie ausreichend gelingt. Vorteilhaft für die Bauern ist, dass der Reichsnährstand Abnahmemengen und Preise über Weltmarktniveau garantiert. Bald werden die Leitungsstrukturen der Genossenschaften weitgehend durch Parteimitglieder besetzt, entweder durch Personalauswechslung oder durch Eintritt in die NSDAP der bisherigen Verantwortlichen noch ohne Parteimitgliedschaft.

Schon 1915 wird Johannes mit 26 Jahren Vorsitzender der lokalen Molkereigenossenschaft. Im März 1933 wird er zum Vorsitzenden der Gemeinnützigen Viehverwertungsgenossenschaft in Danzig (heute Gdańsk, Polen) gewählt, zwei Monate später tritt er der NSDAP bei.
Diese Genossenschaft entwickelt sich aus kleinen Anfängen und wächst an auf eine Mitgliederanzahl von mehr als 2.000 Viehbauern heran. Ende der 1930er-Jahre beträgt der Jahresumsatz ca. 3 Millionen Danziger Gulden. Die Genossenschaft kontrolliert ca. 40 % des Absatzes des Danziger Schlachtviehmarkts und stellt somit eine bedeutende wirtschaftliche Größe in der Freien Stadt Danzig dar.
Die Hauptsache war es, aus meiner Schau, unseren Umsatz zu steigern und möglichst vielen Berufsgenossen das an sich sehr reelle Kommissionsgeschäft zugänglich zu machen. Es dauerte auch nicht lange, bis wir einen enormen Mitgliederzuwachs erreichten. Das fing an Schule zu machen, als im Herbst die fetten alten Kühe an den Markt kamen. Diese an sich manchmal muskelschwachen Tiere wurden damals verhältnismäßig gut bezahlt. Von den Händlern wurden sie besonders von solchen Bauern, die über den Wert der alten und manchmal unansehnlichen Tiere nicht Bescheid wussten, allzu gerne „geschlengt“ – d.h. weit unter dem Preise gekauft. Wenn dann ein Bauer seine alte Kuh bei uns zu einem Preise abgesetzt hatte, den er sich zu fordern geschämt hätte, hatten wir in den nächsten acht Tagen ein Dutzend Anmeldungen aus seiner Nachbarschaft. Diese Art Reklame hat die Danziger gemeinnützige Viehverwertungsgenossenschaft groß gemacht. Es kamen natürlich auch Rückschläge. Manchmal überschätzten die aufgewachten Bauern ihr Vieh auch und wir bekamen dann wüste Beschimpfungen zu hören. Ich habe es mir gelegen sein lassen, den Markt und unser Geschäftsgebaren insbesondere Woche um Woche zu überwachen. Selten bin ich am Markttage nicht in Danzig gewesen.
Johannes wird mit weiteren Funktionen in landwirtschaftlichen Verbänden betraut. Er wird stellvertretender Vorsitzender des Vieh- und Fleischversorgungsverbandes Danzig-Westpreußen und Vorsitzender der genossenschaftlichen Schlachtviehzentrale Danzig-Westpreußen. Sie hat mit 22 unterstellten Kreisgenossenschaften in den frühen 1940er-Jahren einem Jahresumsatz von ca. 20 Millionen Reichsmark.
Gerne denke ich noch an meine Aufgaben in dieser Genossenschaft zurück, die tatsächlich nach dem Grundsatz Raiffeisenscher Prägung arbeitete: „Einer für alle und alle für einen.“
Landwirt
Johannes versteht sich als landwirtschaftlicher Unternehmer. Er führt neue Methoden aus Dünger- und Fütterungslehre ein, dokumentiert seine Maßnahmen, Erträge und die Witterung. Diese Aufzeichnungen analysiert er und entwickelt so die Leistungskraft seines Betriebes weiter.
Im Vergleich zu heute ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Mechanisierung der Landwirtschaft noch nicht stark ausgeprägt. Viele Höfe beschäftigen Arbeiter und Hilfsarbeiter in Feld, Stall und Haus. In Westpreußen gibt es das Konzept der Inste. Durch einen langfristigen Vertrag gebunden, leben Insteleute mit ihren Familien auf einem großen Bauernhof und stellen selbst Knechte, sogenannte Hofgänger, für die Arbeit am Hof ein. Der Hofbesitzer bezahlt seinen Instemann mit Leistungen wie der Nutzung eines separaten Hauses, Land zur Eigenbewirtschaftung, einen monetären Anteil am Erlös der Getreideernte sowie Naturalien. Dieser wiederum entlohnt die Hofgänger. So befinden sich außer den Familienangehörigen noch viele Arbeiter auf Johannes Betrieb.
Nach dem Ersten Weltkrieg verändert sich die Lage: Gewerkschaftler organisieren die Landarbeiter, Bauern schließen sich in Arbeitgeberverbänden zusammen. Johannes vertritt im Kreisverband die Heubudener Bauern. Er erinnert sich an die Einführung einer Landarbeitsverordnung, die das Aushandeln von Tariflöhnen (weiterhin bestehend aus Naturalien und Barlohn) und Arbeitszeiten festschreibt.

Ebenso wurde die tägliche Arbeitszeit festgelegt – bisher kannte man so etwas nicht. Die tägliche Arbeitszeit war von Beginn der Tarifordnung bis kurz vor dem zweiten Weltkriege in den Monaten November bis Februar täglich 8 Stunden, März bis April 10 Stunden, Mai bis August 11 Stunden, September bis Oktober 10 Stunden. Außerdem wurde zur Besorgung und Versorgung des Viehes von 5 bis 6 Uhr eine sogenannte Frühstunde eingelegt.
Johannes engagiert sich lokal und regional für landwirtschaftliche Belange und übernimmt Ämter bei Bauernvertretungen und Genossenschaften.
Es war mein Bestreben, rationell zu wirtschaften, den wirtschaftlichen und persönlichen Aufwand nicht ins Uferlose anwachsen zu lassen.
Zwangsarbeiter auf den Höfen
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs fehlen dem Deutschen Reich Arbeitskräfte. Die Kriegsmaschinerie läuft auf Hochtouren und muss bedient, zerstörte Betriebe und Anlagen wieder hergestellt, die Bevölkerung versorgt werden. Wo kriegt man Arbeitskräfte her? Die Antwort des NS-Regimes ist „Zwangsarbeiter“ – das sind Verschleppte, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.
Offizielle Stellen verdienen große Summen mit der „Vermietung“ von Zwangsarbeit. Den Bauern im Deutschen Reich werden auf Antrag Zwangsarbeiter vom Reichsarbeitsministerium und von den Konzentrationslagerverwaltungen zugewiesen, die für die Feld- und Hausarbeit eingesetzt werden. Man denkt: „Die Saat muss ja ausgebracht, die Ernte eingeholt und das Vieh im Stall versorgt werden.“ Die meisten deutschen Männer sind nun Soldaten und im Krieg. Viele Frauen arbeiten in der Rüstungsindustrie oder beim Reichsarbeitsdienst. Der Landarbeitermangel muss irgendwie ausgeglichen werden. Gerade im ländlichen Raum wird somit Zwangsarbeit in kurzer Zeit normalisiert, denn bereits während des Ersten Weltkriegs wurden Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter zugewiesen.
In Westpreußen wird 1939 das Konzentrationslager Stutthof errichtet und nachfolgend um 39 Außenlager erweitert. Ab 1942 werden die Gefangenen systematisch zur Unterstützung der deutschen Kriegswirtschaft (Industrie und Landwirtschaft) ausgebeutet und was in vielen Fällen den Tod durch Arbeit zur Folge hat.
Johannes‘ Neffe, Ortwin Driedger, der auf Johannes‘ Elternhof in Gnojau aufwächst, beschreibt, dass er als achtjähriger Junge an der unmittelbar am Hof verlaufenden Bahnstrecke Züge, die Menschen in Viehwaggons nach Stutthof transportierten, beobachtete und dass jüdische Häftlinge aus dem nahegelegenen Konzentrationslager als Zwangsarbeiter auf den elterlichen Hof kamen.
Auch Johannes erwähnt den Einsatz jüdischer und osteuropäischer Zwangsarbeiter auf seinem Hof.

Flucht aus Westpreußen
Im Januar 1945 hat die sowjetische Armee bereits Ostpreußen erreicht und die Front rückt immer näher. In Westpreußen entsteht bald eine Kessellage. Jeder weiß, dass die Flucht bevorsteht; ohne Evakuierungsbefehl aufzubrechen, bedeutet den Tod durch Erschießung.
Am 24. Januar erhält Heubuden den Evakuierungsbefehl. Als sich der Zug der Heubudener aufmacht, gibt es schon bei der Einmündung auf die nahegelegene Reichsstraße einen Stau. Die Straße ist verstopft. Der vorbeiziehende Flüchtlingsstrom reißt nicht ab und darf ohne Befehl des Ortsgruppenleiters nicht aufgehalten werden. Die Heubudener warten zwei Stunden, bis sich herausstellt, dass der Ortsgruppenleiter bereits getürmt ist. Dann drängen sie sich hinein.
Nach Tagen im lediglich 40 km von Heubuden entfernten Groß Golmkau (heute Gołębiewo Wielkie, Polen) angekommen, schreibt Johannes am 3. Februar, seinem Geburtstag:
Heute vollende ich mein 56. Lebensjahr. Man leidet unter der Flüchtigkeit seines Daseins – darunter, dass man nicht mehr sesshaft ist, nirgends auf Erden eine Bleibe hat. […]
Wie sich aber unsere Zukunft gestalten soll, begreifen können wir das nicht, wenn der Russe 80 km vor Berlin steht. Flüchten können wir zurzeit auch nicht weiter. Gelingt es dem Russen, weiter vorzustoßen, so wird er auf die Odermündung losgehen und uns einschließen. Gebe Gott, dass wir bei Vollendung des heute angefangenen Lebensjahres wieder zu Hause sind, wenigstens beim Bebauen irgendeiner Scholle.

Am 11. Februar fahren Johannes und Eckbert auf ihrem Pferdegespann zurück nach Heubuden, um Proviant zu holen. Die Rückfahrt in Gegenrichtung des Flüchtlingsstroms dauert mit dem Pferdewagen nur sechs Stunden. Wehrmachtssoldaten haben sich einquartiert, der Hof befindet sich im Kriegszustand. Noch zweimal kehren sie zurück, um die Heubudener Flüchtlinge und ihre Pferde versorgen zu können.
Den ganzen Februar fahren sie hin und her, die Marschbefehle ändern sich ständig. Die Nachricht, dass die Sowjetarmee auch westlich von ihnen bis zur Ostsee durchgestoßen sei, verbreitet sich. Die Einkesselung ist somit komplett vollzogen. Es gibt nur noch einen Weg heraus, den über die Ostsee. Von allen Seiten drängen sich Hunderttausende zu den Häfen um Danzig. Menschen und Pferde leiden unter der eisigen Kälte, der sie ungeschützt ausgesetzt sind. Wo findet man noch Unterkunft und Essen? Die Front rückt immer näher und sie hören schon Gefechtsfeuer.
Bei Schlochau (heute Człuchów, Polen) überholen sowjetische Panzer die Flüchtlinge. Eckbert, der den Verdeckwagen lenkt, kann mit seiner Mutter und weiteren Personen entfliehen. Johannes, weiter hinten, lenkt einen anderen Wagen und wird von sowjetischen Soldaten überrollt.
Verzweifelt sucht er im Chaos nach seinen Lieben, findet sie aber nicht.

Johannes auf der Flucht
Magda und Eckbert, wo sind sie? Johannes ist mit den Verbliebenen seines Trecks gefangen, mitten in der Front. Sowjetische, polnische und deutsche Soldaten schwärmen umher, keiner ist sicher. Die Heubudener Gruppe ist nun in Wierschutzin (heute Wierzchucino), ca. 140 km von Heubuden entfernt. In ihrem Quartier sind sie ungeschützt und ständiger Bedrohung ausgesetzt.
Einmal musste ihre jüngste Tochter, der Sonnenschein der Eltern von ihren beiden kleinen Kindern, mit einem russischen Offizier ins nächste Dorf – und kam unglücklich zurück – am nächsten Morgen. Das andere Mal hatte man mich in Verdacht, ein Mädel aus dem Nachbarhofe vor ihrer Vergewaltigung versteckt zu haben, und wollte mich dafür umbringen. Dem flehentlichen Bitten der ganzen Hausgemeinde, dem Weinen der vielen Kinder, die von der drohenden Gefahr angesteckt waren, verdanke ich mein Leben. Zwischendurch erlebte ich dann auch wieder halbe Tage der Ruhe und friedlichen Landarbeit. Dann mussten wieder Kühe abgetrieben werden. Keiner der Treiber wusste, wann und ob er jemals zurückkommen würde. Zwischenrein klopften nachts deutsche Landser ans Fenster. Sie irrten tags in den großen Waldungen umher und wurden abgespeist – mit Lebensgefahr für die ganze Hausgemeinde.
Am 30. April wird Johannes von einer sowjetischen Offizierspatrouille aufgegriffen und zum Gespanndienst eingeteilt. Zusammen mit anderen Männern soll er die nächsten drei Tage für einen Transport Pferde und Fuhrwerke betreuen. Erst am 27. Juni erhält er seine Entlassungspapiere als Helfer des sowjetischen Soldatentrupps. In der Zwischenzeit hat er Munition transportiert, zusammenbrechende Wagen repariert, Plünderungen erlebt und selbst gestohlen.
Die Stadt, verlassen wie sie war, hatte eine Fülle gut möblierter deutscher Wohnungen. Man fand in den Kellern gelegentlich auch noch Speisevorräte. Eingemachte Stachelbeeren und Fenchelhonig nahm ich an, waren für deutsche Mägen bestimmt und nicht für russische. Man wurde da zum Räuber unter Räubern, alle Bande unserer segensreichen Ordnung waren eben gesprengt. Wir sind auch bei Dievenow [heute Dziwnów, Polen] über die Oder bis in die Gegend des Badeortes Misdroy [heute Międzyzdroje, Polen] gekommen. Dort haben wir in einer großen Mühle Roggen geladen. Es war dort verführerisch zur Flucht. Ich habe es nicht riskiert und bedaure es heute nicht.
Der neue Befehl der sowjetischen Verwaltungsbehörde lautet, jeder solle in seine Heimat zurückkehren. Johannes trifft zufällig eine Bekannte, die ebenfalls dem Heubudener Flüchtlingstreck angeschlossen war, und sie machen sich gemeinsam auf den Weg zurück nach Heubuden.
Aber wie sah unser fruchtbares Werder aus? Auf dem Hofe Penner, Liessau, an dem wir zuerst vorbeikamen, waren offenbar russische Armeekolonnen einquartiert. Es war wohl ein kleines Militärdurchgangslager. Die erstklassig gepflegten Felder dieses Hofes waren allerdings nicht wiederzuerkennen. Mal sahen wir ein Weizenfeld oder eine kleine Kartoffelparzelle, sonst erblickte man weiter nichts als mannshohes Unkraut. In Altweichsel hörten wir, dass Gerhard Wiebe, Kunzendorf, zu Hause sein sollte, als Knecht auf seinem Hofe.
Auf Johannes‘ Hof wohnt jetzt die polnische Familie Marchaj. Ein polnischer Vertreter der politischen Gemeinde bestimmt, dass sie Johannes aufnehmen und verpflegen müsse und er dafür zu arbeiten hätte. Johannes nimmt die Arbeit an, kommt mit „Pan [Anrede „Herr“] Marchaj“ aus und sagt von ihm, er sei ein gutmütiger Mensch. Johannes ist einfallsreich und erntet für den eigenen Wintervorrat, dort wo weder die sowjetischen Soldaten noch die polnischen Bauern ernten, er macht Tauschgeschäfte und nutzt jede Gelegenheit, Vorräte zu sammeln.
Johannes ist wieder als Prediger in der Mennonitengemeinde tätig und betreut die Zurückgekehrten. In diesem Sommer gibt es mehrere Beerdigungen, Johannes spricht die Trostworte.
Eines Nachmittags kommt ein polnischer Soldat mit zwei Helfern. Als Johannes auf die Frage, wo seine Frau und sein Sohn Reinhard seien, antwortet, er wisse es nicht, wird er mit einer Pistole bedroht. Zum Schuss kommt es nicht, aber Johannes erhält Schläge auf den Kopf und flieht unbemerkt in den Heuschuppen. „Pan Marchaj“ versteckt ihn dort noch einige Tage, doch als die Verhaftung droht, muss Johannes weg. Die Lage wird immer gefährlicher, Nachrichten treffen ein, dass andere Gemeindemitglieder misshandelt und getötet wurden. Johannes verkauft seine Vorräte und beschließt sich aufzumachen.
Dann schlich ich mich aus Heubuden heraus im Schutze der Schwente und von Gustav Reimers Grundstück durch die Felder nach Groß Montau. Das war am 4. Oktober 1945.
Noch einmal gerät er in die Fänge einer Miliz, wird misshandelt, und wieder eilt ihm ein polnischer Bekannter zu Hilfe. Sein Onkel Cornelius Driedger und Frau Fast aus Heubuden melden sich bei ihm, als er sich beim Roten Kreuz um eine Weiterreisemöglichkeit bemüht. Die beiden wollen mit. Die kleine Gruppe schafft es nach Berlin und Onkel Cornelius sogar, dass sie eine Ausreisegenehmigung in die britische Besatzungszone erhalten.

Wieder gefunden
In Sehlde unweit von Wolfenbüttel kommen sie bei einer Familie unter. Johannes erfährt, dass Vertreter des amerikanischen Mennonitischen Zentralkomitees (MCC) Listen von mennonitischen Flüchtlingen in Dänemark zusammenstellen und erhält die Auskunft, dass Magda und Eckbert im Lager Aalborg West leben. Zivilen deutschen Flüchtlingen in dänischen Lagern ist erst ab November 1946 die Ausreise erlaubt. Johannes muss eine Unterkunft für Magda und Eckbert nachweisen, damit sie kommen können.
Am 3. Dezember [1946] passierten Magda und Eckbert die deutsche Grenze und schickten mir nach Sehlde ein Telegramm […]. Es war ein sehr freudiges und warmes Wiedersehen, das von stiller Bedrückung über die Frage um unser weiteres Schicksal nicht frei war.
Diesen Winter bemüht sich die Familie erfolglos, für Eckbert eine Lehrstelle als Landwirt zu finden. Aber die mennonitischen Verbindungen funktionieren und sie erfahren, dass auf dem Weierhof bei Otto Zerger (1898-1962) im Hof An der Brücke ein Lehrling gesucht wird. Der Weierhof befindet sich in der französischen Besatzungszone. Sowohl für die Ausreise aus der britischen als auch für die Einreise in die französische Besatzungszone ist eine Genehmigung der jeweiligen Verwaltung notwendig. Nur weil Johannes und Magda eine Einladung zur Mitarbeit bei einer mennonitischen Jugendfreizeit erhalten, können sie die Genehmigungen beantragen und erhalten sie.
Eckbert stellt sich vor und beginnt seine Lehre im Hof An der Brücke im Mai 1947. Er wird von Familie Zerger durchgefüttert, da er keinen legalen Aufenthaltsstatus hat und daher keine Lebensmittelmarken bekommen kann. Endlich im Dezember 1947 erhält er seine Aufenthaltsgenehmigung für die französische Besatzungszone und kann, nun ausgestattet mit den notwendigen Papieren, nach acht Monaten die französische Zone zum ersten Mal verlassen, um seine Eltern zu Weihnachten zu besuchen.

Für Magda und Johannes in Sehlde sind ebenfalls schwere Zeiten zu überstehen. Um den Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitet Johannes 10-11 Stunden am Tag als Landarbeiter. Die Arbeit ist schwer und eintönig. Nichts ist mehr geblieben vom erfolgreichen landwirtschaftlichen Unternehmer, nun ist Johannes fast sechzigjährig ein Knecht.
Also setzt er seine Energie in seiner neuen Gemeinde, der Göttinger Mennonitengemeinde, ein. Er predigt, besucht und vernetzt die Geflüchteten und integriert sie in die Gemeinde. Er sucht überregionale mennonitische Kontakte, um die Ansiedlung von Flüchtlingen in den westlichen Besatzungszonen voranzutreiben. Otto, der Lehrherr seines Sohnes Eckbert, ist ebenfalls sehr aktiv in dieser Hinsicht und so haben sich zwei Praktiker und Landwirte gefunden, die die Sache vorantreiben wollen. Otto, aus dem Westen, dessen Haus, Hof und Ackerland keinen Schaden genommen hat, und Johannes aus dem Osten, der Haus, Hof und Land verloren hat. Aber der Krieg ging an keinem spurlos vorbei, beide beklagen den Tod ihrer gefallenen Söhne.
Otto lädt Magda und Johannes ein, auf den Weierhof zu ziehen, und bietet ihnen eine Unterkunft in seinem Haus an. Ein Umzug in die französische Besatzungszone ist jedoch an strenge Bedingungen geknüpft. Magda und Johannes müssen nachweisen, dass sie dort einen Arbeitsplatz oder andere Einkommensquellen haben. Zudem sind umfassende Gesundheits- und Sicherheitsüberprüfungen erforderlich, einschließlich der Prüfung der politischen Haltung. Sie benötigen Passierscheine und müssen sich bei den örtlichen Behörden in der französischen Zone anmelden. Trotz stetiger Anstrengungen gelingt Johannes die Übersiedlung auf den Weierhof erst im Frühjahr 1949. Magda zieht nicht mehr mit, denn sie stirbt bereits im Januar 1949 und wird in Sehlde begraben. Aber Johannes holt sie zu sich und lässt sie auf den Weierhöfer Friedhof umbetten.

Wieder Genossenschaftler
Otto hatte sich bereits dafür engagiert, mennonitischen Flüchtlingen aus Ost- und Westpreußen eine Bleibe in der Pfalz zu organisieren und findet in Johannes einen unermüdlichen und kompetenten Partner, diese Sache voranzutreiben.
In der neuen Umgebung sesshaft zu werden, ist für viele Flüchtlinge eine große Herausforderung. Meist leben sie noch einquartiert bei einheimischen Familien, denn nach der Flucht sind sie mittellos und eigener Wohnraum ist rar. Johannes ist Initiator und Mitbegründer des Genossenschaftlichen Flüchtlingswerkes. Bis zum Ende der Genossenschaft können 148 Mitglieder beim Erwerb eines landwirtschaftlichen Betriebs und Wohnraum unterstützt werden. Darunter ist auch Johannes selbst. Er erwirbt einen Anteil am Hof Ins Schowalters und zieht dort mit seiner Schwester Anna Driedger (1895-1972) am 1. März 1955 ein.


Bereits im August 1949 übernimmt Johannes als Geschäftsführer die Raiffeisenkasse Weierhof. Anna betreut die Ein- und Auszahlungen. Jedem Neugeborenen auf dem Weierhof schenkt Johannes ein Sparbuch mit einem Startkapital von 5 DM und eine feuerrote Sparbüchse. Am Weltspartag kommen die Kinder vorbei und bringen ihr über das Jahr Ersparte zu Onkel Johannes und Tante Anna.
Im Sinne von Raiffeisen erwerben die Weierhöfer Bauern gemeinschaftlich landwirtschaftliche Geräte zur gemeinsamen Nutzung. Viele dieser Geräte werden in der Scheier untergestellt. Johannes selbst bedient hier die Saatgutreinigungsmaschine und die Schrotmühle. Seine Hühner haben einen kleinen Verschlag hinter der Scheune.
Auf dem Weierhof
Johannes fallen die Unterschiede zwischen dem ländlichem Leben in der Pfalz und Westpreußen auf. Über den Weierhof schreibt er:
Die Betriebsführung war noch recht patriarchalisch gestaltet. Auf jedem Hofe befanden sich Hausmädchen, die allerdings nachmittags auch auf dem Felde schafften. Jeder Bauer hatte seine Mitarbeiter und Lehrlinge. Zur Feldarbeit erschienen an den Nachmittagen Frauen aus den Nachbardörfern Bolanden und Marnheim. Die unverheirateten Mitarbeiter erhielten monatlich DM 50,- und freie Station. Worüber ich mich schon in Sehlde gewundert hatte und was mir auch auf dem Weierhofe auffiel, war die soziale und menschliche Verbundenheit der Menschen. Die Klassenunterschiede waren lange nicht so ausgeprägt wie in unserer alten Heimat. Die Frauen schafften gerne in der Hof- und Feldwirtschaft, sogar Beamtenfrauen fühlten es nicht als unter ihrer Würde stehend, landwirtschaftliche Arbeiten auszuführen, soweit sie ihrer Leistungsfähigkeit entsprachen. Damit hatte ich [es] in der alten Heimat recht schwer gehabt. Als die Frau meines Instmannes Preuß mir […] als Mitarbeiterin zugewiesen wurde, stellte sie sich so querig wie möglich an und ließ es an verletzenden Äußerungen über die Sklavendienste nicht fehlen, die ihr dadurch zugemutet wurden.


Die Mennonitengemeinde Weierhof wächst mit dem Zuzug der Flüchtlinge stark an und verdoppelt sich fast. Johannes ist Seelsorger und Prediger für Flüchtlinge und Einheimische und fördert die Integration. Obwohl er ein Traditionalist ist, treibt ihn seine unternehmerische, zupackende Art nach vorne. Wie kann man Leben gestalten, anpacken, Zuversicht spenden?
Oft steht Johannes auf der Kanzel der Weierhöfer Kirche und predigt. Sein Bezug zur Landwirtschaft und allem Praktischen wird in seinen Predigten deutlich und passt trefflich zu seiner bäuerlichen Zuhörerschaft. Am 9. September 1951 predigt Johannes über das Gleichnis Der wahre Weinstock und seine Reben (Joh. 15, 1-8), hier einige Auszüge:
Liebe Gemeinde! Der Lenker unseres Lebensschicksals hat unseren Lebensweg in ein Weinland geführt. Gemeinsam mit Euch, Ihr lieben einheimischen Glaubensgeschwister, dürfen wir den Weingärtner bei seiner Arbeit an seinen Weinstöcken und an seinen Reben kennen lernen. […]
Es wird doch unter uns niemand ernsthaft behaupten wollen, daß er von seinem Schöpfer nicht Talente irgendwelcher Art mitbekommen hat auf seinem Lebensweg. Diese Talente fruchtbar zu entfalten an jedem Ort, in jeder Umgebung, in jedem Lebensalter, dazu will uns der Saft und die Kraft unseres rechten Weinstockes dienen. […]
Wir sind keine streng abgegrenzte Kulturgemeinschaft mehr und trotzdem wissen wir uns in der Tiefe der Seele zusammengehalten und ausgerichtet von unserem Wachstum auf demselben Weinstock. […]
Zum Schluß steigt unser Heiland mit uns auf eine höhere Ebene. Von dieser Höhe dürfen wir es erkennen, daß das Fruchtbringen nicht nur dem Bleiben des Einzelnen dient. Es hat auch über die Mission der christlichen Gemeinde hinaus eine hohe Bedeutung.
Drei Wochen später ist Otto Zergers Geburtstag. Johannes schenkt seinem Freund dazu eine Abschrift dieser Predigt und widmet sie ihm aus tief empfundener Dankbarkeit für die Unterstützung der Flüchtlinge mit den folgenden Worten: „Zum 30. September 1951 mit besten Wünschen für die fruchtbare Weiterführung seines Lebenswerkes in Verbundenheit von seinem Pflegling Johannes Driedger.“
Den nun Weierhöfer Westpreußen ist es ein Bedürfnis, ihrer Trauer um Angehörige Ausdruck zu verleihen. Man besuchte doch in Heubuden vor dem Kirchgang den Friedhof, schaute bei den Gräbern der Eltern, Großeltern und Kinder vorbei und gedachte ihrer. Ein solcher Ort fehlt nun. Johannes und andere setzen sich dafür ein, diesem Anliegen auf dem Weierhof Raum zu geben. Christian Gallé (1897-1970), ein einheimischer Bauer und talentierter Hobby-Schreiner, entwirft, baut und schnitzt ein großes Eichenkreuz zum Gedenken an die Toten in der fernen Heimat, das auf der Stirnseite des Weierhöfer Friedhofs errichtet und am 22. Juni 1952 eingeweiht wird.

Über den Weierhof hinaus verfolgt Johannes gespannt die Aktivitäten zum Bau des Mennonitischen Alten- und Pflegeheims im nahegelegenen Enkenbach, das 1953 eröffnet wird. Die ersten Bewohner sind vor allem ehemals preußische Mennoniten. Rund um das Mennoheim entsteht im Laufe der Zeit eine neue Siedlung für mennonitische Familien und 1956 gründen die neuen Einwohner eine Mennonitengemeinde.

Die Evangelische Kirche in Deutschland veröffentlicht 1965 die Denkschrift Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, später als Ost-Denkschrift bezeichnet. Diese Denkschrift beklagt das Unrecht gegenüber den Vertriebenen, plädiert aber gleichzeitig für die Aussöhnung mit Polen und den Verzicht auf die Wiederherstellung der Grenzen von 1937, eine Position die bis dahin im öffentlichen Diskurs tabuisiert wurde. Auch auf dem Weierhof löst diese Denkschrift eine heftige und leidenschaftliche Debatte aus. Johannes tritt jedoch dafür ein, die Realitäten anzuerkennen und die Aussöhnung mit Polen zu suchen.
1966 stirbt Johannes im Alter von 77 Jahren. Seine beiden Söhne und Schwiegertöchter mit den Enkeln sind in seiner Nähe, denn Reinhard und Eckbert bewirtschaften mit ihren Familien Bauernhöfe in der Umgebung.