Hansjörg Neff

Hansjörg Neff

Familie und Jugend

Hansjörg ist der älteste Sohn von Hans Neff (1897-1974) und Hilda Göbel (1892-1984). Er erblickt das Licht der Welt am 13. August 1924. Eigentlich heißt Hansjörg „Hans Georg“, doch niemand nennt ihn so. Später wird er im Krieg der Gefreite „Hans“ sein.

Zur Geburt des Stammhalters gehen viele Glückwünsche ein. Die Ilbisheimer Verwandschaft schreibt am 23. August 1924:

Ihr lieben zwei,

nach der vierfachen Bestätigung der frohen Kunde […] fassten wir den Entschluss, morgen den kleinen Hannjer uns einmal anzusehen, und den glücklichen Eltern und Großeltern unsere herzlichen Wünsche mit Zubehör zu überbringen.

Weil es nun aber bindfadelt und das Barometer weiter den Weg des deutschen Volkes geht, so müssen wir, so unlieb uns das auch ist, schriftlich werden. Nehmet also unsere papiernen Wünsche aus treuen Herzen kommend entgegen!

Daß der Junge innig und sinnig wie der Jesusjünger und tapfer und stark wie sein anderer Namensvetter und so einer von denen werde, die der gesegneten Zukunft unseres lieben Volkes bitter Not tun, dazu helfe der gütige Gott! […]

Hansjörg mit seiner Mutter Hilda (1924)
Hansjörg mit seiner Mutter Hilda (1924)

Die Familie wohnt im ältesten Hof des Weierhofs, Ins Althannese. Anfang der 1920er-Jahre übernimmt Hans die Landwirtschaft von seinem kinderlosen Onkel Johann Heinrich Krehbiel und dessen Frau, Katharina Wohlgemuth. Hilda und Hans heiraten 1923 – er ist 26, sie 31 Jahre alt. Neben Hansjörg kommen noch drei weitere Kinder zur Welt: Renate (1925–2018), Helmut (1927), der nur wenige Wochen lebt, und Ernst (1930–2015). Zu Beginn scheint das Familienglück intakt. Vor allem Hansjörg und seine kleine Schwester Renate werden stolz auf Fotografien verewigt.

Vater Hans, der eine besondere Vorliebe für Pferde hat und ein ausgezeichneter Reiter ist, achtet darauf, dass nicht nur Arbeitspferde im Stall stehen. Gelegentlich gönnt er sich auch einen Ausritt auf einem besonders schönen Gaul. Hans schätzt Gesellschaft und Unterhaltung, geht mal über die Straße nach Marnheim zu Dr. Laible, um dort ein Schnäpschen zu trinken und altgriechische Texte zu übersetzen. So richtig Bauer zu sein, fällt ihm schwer. Nach seinem Wehrdienst im Ersten Weltkrieg tritt er in den Stahlhelm ein und später in die SA. Nach dem Röhmputsch 1934 soll ihm „der Haufen“ nicht mehr so gefallen haben. Er zieht sich ins Private und Örtliche zurück, wird z.B. Feuerwehrhauptmann der Weierhöfer freiwilligen Feuerwehr, die ihre Handpumpe in der Lehr unterstellt.

Hansjörg und Renate (ca. 1927)
Hansjörg und Renate (ca. 1927)

Mutter Hilda spielt leidenschaftlich gern Klavier. Sie hatte ein Konservatorium besucht und eine Ausbildung zur Pianistin angestrebt. Als junge Frau muss sie schwere Schicksalsschläge hinnehmen. Ihre Brüder Ernst und Erich werden im Ersten Weltkrieg getötet, der dritte Bruder, Helmut, kommt mit einem schweren Lungenleiden wieder nach Hause und stirbt wenige Jahre danach. Gerade in den 1930er- und 1940er-Jahren geht es ihr oft schlecht und sie kämpft mit psychischen Problemen.

Manche Jahre verschlechtert sich Hildas Gesundheit so sehr, dass sie sich in eine psychiatrische Klinik begibt. So gibt es einen Aufenthalt in der Hohe-Mark-Klinik im Taunus. Psychische und geistige Erkrankungen sind nicht nur ein Makel im NS-Regime, Menschen mit diesen Einschränkungen werden als lebensunwert angesehen. Den Weierhof erreichen Gerüchte, dass in Hohe Mark Menschen getötet werden. Und es ist tatsächlich so, Hohe Mark wird zu einer zentralen Tötungseinrichtung innerhalb der Aktion T4. Aus Einrichtungen für psychisch Kranke und Menschen mit geistigen Behinderungen werden Betroffene nach Hohe Mark verbracht und systematisch, meist durch Injektion, getötet. Ina, Hildas Schwägerin, drängt darauf sie schnellst möglich zurückzuholen. Das passiert auch, und Hilda kehrt auf den Weierhof zurück. Sie ist nun auf ihren Freund und Hausarzt Dr. Laible angewiesen, sie durch die nächsten Jahre zu bringen.

In dieser Situation aufzuwachsen, heißt für die drei Kinder auch dem Haus zu entfliehen. Sie besuchen oft das Pfarrhaus, wo ihre Großmutter, Lydia Neff, genannt Omama, und deren Tochter, Ina, ein offenes Haus mit viel Trubel führen. Da sind die vielen auswärtigen Gäste, die Pfarrer Neff besuchen möchten, Gemeindemitglieder, die vorbeischauen und oft Naturalien mitbringen, aber auch die Cousinen aus Eberswalde, die den Sommer bei ihren Großeltern verbringen. Rücksicht muss jedoch auch auf Opapa genommen werden, der vor allem in seinem Arbeitszimmer nicht gestört werden darf.

Außerdem kann man auf dem Weierhof in jedem Haus vorbeischauen und Spielkameraden finden.

Aus den frühen Kinderjahren sind ein paar Bilder von Hansjörg und Renate erhalten, jedoch gibt es danach fast keine Bilder mehr, weder von Ernst noch ein Bild der gesamten Familie.

Renate und Hansjörg mit ihrer Tante Ina Neff (ca. 1928)
Renate und Hansjörg mit ihrer Tante Ina Neff (ca. 1928)

Eine Ausnahme bildet ein Foto, auf dem die Geschwister mit der Hakenkreuzfahne marschieren – die Begeisterung für Führer und Vaterland „findet Einzug in die deutsch-nationale Familie“. Ernst und Renate erinnern sich, dass in der Familie generell wenig gesprochen wurde, auch wenig über Politik. Wenn doch, dann trauerten die Eltern eher dem alten Kaiserreich nach; besonders Kaisers Geburtstag war für Mutter Hilda weiterhin von großer Bedeutung. Klarer in seiner Haltung zeigt sich Hans Löber, der seit 1937 Mitglied der NSDAP ist und als Onkel sowie Lehrer an der Weierhöfer Schule eine zentrale Bezugsperson für Hansjörg darstellt.

Hansjörg erlebt auf dem Weierhof eine typische Jugend während des Nationalsozialismus. Er ist Mitglied des Deutschen Jungvolks, der nationalsozialistischen Organisation für Jungen zwischen 10-14 Jahren. Spätestens mit dem am  1. Dezember 1936 erlassenen Gesetz über die Hitlerjugend, das die Mitgliedschaft verpflichtend macht, ist er auch Hitlerjunge. Dieses Gesetz schreibt vor, dass die deutsche Jugend ausschließlich im Geist des Nationalsozialismus erzogen wird. 1936 sind 85% aller Jungen zwischen 10-18 Mitglied der nationalsozialistischen Jugendverbände. Uniformiert, militärisch organisiert folgen sie dem Prinzip „Jugend führt Jugend“ und dem Leitspruch: „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Krupp-Stahl.“

v.r. Ernst, Renate und Hansjörg (ca. 1933)
v.r. Ernst, Renate und Hansjörg (ca. 1933)
Hansjörgs Taufgruppe, 3. Reihe v.l. Renate, 4. Reihe v.l. Paul Schowalter, Hansjörg (16.7.1939)
Hansjörgs Taufgruppe, 3. Reihe v.l. Renate, 4. Reihe v.l. Paul Schowalter, Hansjörg (16.7.1939)

Hansjörg wird am 16. Juli 1939 zusammen mit seiner Schwester Renate von Pfarrer Paul Schowalter getauft. Sein Taufspruch aus 1. Timotheus 2,8 lautet: „So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel.“

Schulzeit auf dem Weierhof

Im Frühling 1935 beginnt der zehnjährige Hansjörg als Sextaner seine Schullaufbahn an der Realanstalt am Donnersberg. Er ist einer der wenigen Tagesschüler, die aufgenommen werden, da die Realanstalt überwiegend eine Internatsschule ist. 

Hansjörg tritt in große Fußstapfen: sein Großvater Ernst Göbel war langjähriger Schulleiter, gefolgt von seinem Großonkel Gustav Göbel. Die drei Brüder seiner Mutter Hilda sind ebenfalls ehemalige Schüler, während Großvater Christian Neff und Onkel Hans als Lehrer dort tätig sind. Somit steht Hansjörg in einer langen Familientradition, die vermutlich Stolz und Druck auslöst und ihm zugleich Ansporn ist.

Als das zweite Schuljahr für Hansjörg beginnt, findet er sich in der neuen Gau-Oberschule wieder, die nun den Abschluss Abitur ermöglicht, der zum Studum an einer Universität berechtigt

Hansjörg (1939)
Hansjörg (1939)

Hansjörg geht gerne zur Schule. Besonders die Naturwissenschaften begeistern ihn. Seine Zeugnisse zeigen durchweg die Note 1 in den Fächern Chemie, Biologie, Physik und Mathematik. Hansjörg ist wissbegierig und nimmt an zusätzlichen Kursen in Astronomie und Latein teil. 

Er muss sich bemühen, seine körperlichen Anlagen auf den Gebieten der Leibesübungen weiter zu entwickeln. Sein Verhältnis zu den Kameraden muss noch enger und herzlicher werden, da er sonst leicht zum Eigenbrötler wird. […] Sein Betragen war sehr lobenswert.
(Jahreszeugnis 1938/39)

Er ist gesund, ein guter Leichtathlet. Auch hat er sich den Leistungsschein der DRLG erworben. Im Geräteturnen erzielte er nur durchschnittliche Leistungen. Seine vielseitigen Interessen und seine gründlichen Kenntnisse besonders in den Naturwissenschaften verdienen Anerkennung. […] Er ist besinnlich und gesetzt in seinem Wesen, ein guter Kamerad. Sein Betragen war lobenswert, sein Fleiß groß.
(Jahreszeugnis 1940/41)

Hansjörg ist körperlich durchschnittlich entwickelt. Seine ausgezeichneten Leistungen im Schwimmen verdienen hervorgehoben zu werden. Er ist einsatzfreudig, zuverlässig und bescheiden. Seine leichte Auffassung, sein ausgeprägtes Denkvermögen, sein gutes Gedächtnis und seine gründliche Arbeitsweise befähigen ihn zu sehr guten Leistungen in den wissenschaftlichen Fächern.
(Jahreszeugnis 1941/42)

Mitte der 1930er-Jahre fertigt die Weierhöfer Schule ein Leporello als verschickbare Drucksache zu Werbezwecken an. Es zeigt Fotos aus dem Alltag der Realanstalt.

Sport ist nicht ganz so Hansjörgs Sache, aber er ist ein guter und begeisterter Schwimmer. Er erwirbt den Reichsschwimmschein sowie den Grund- (1937) und den Leistungsschein (1941) der DLRG. Vermutlich verbringt er so manchen Sommertag im Weierhöfer Schwimmbad.

Leistungsschein DRLG (1.7.1941)
Leistungsschein DRLG (1.7.1941)
Hansjörgs DLRG Abzeichen
Hansjörgs DLRG Abzeichen

Während des Schuljahrs 1936/37 kommt auch Schwester Renate an die Gau-Oberschule. Der gemeinsame Schulweg führt über die neue Straße, die nun den Weierhof vom Schulgelände trennt. Ihre Aufnahmezusage hatte Renate noch von der Realanstalt erhalten. Die neue Gau-Oberschule ist jedoch nur Jungen vorbehalten; Mädchen sind nun unerwünscht. Die Schülerinnen werden noch ein Jahr geduldet, müssen dann aber die Schule verlassen. Die Rhein–NSZ-Front vom 11. April 1936 titelt dazu: „Ein Ostergeschenk für die Jugend. Nationalsozialistische Musterschule am Donnersberg – Gleiche Möglichkeit zur höheren Schulbildung für alle.“

Hans Löber (ca. 1935)
Hansjörgs Onkel, Hans Löber (ca. 1935)

Hansjörg tauscht sich gerne mit seinem Onkel, Dr. Hans Löber, aus, der Chemie und Naturwissenschaften an der Realanstalt unterrichtet.

Besondere Freude bereitet Hansjörg eine schulische Hausarbeit, in der er sein Interesse an Chemie mit seiner Neugier für natürliche Phänomene und der Wasserquelle des Weierhofs verbindet: „Chemische Untersuchungen am Wasser der Hollerquelle“.

Später wird Renate seine Arbeit auf der Schreibmaschine abtippen und einreichen, da Hansjörg schon zur Wehrmacht eingezogen ist. Sie kämpft sich tapfer durch die Arbeit und fragt: „Dann erklär mir doch mal so ungefähr was Ionen sind. Da kann ich mir beim besten Willen nichts darunter vorstellen!“

Wenige Tage darauf antwortet Hansjörg in großer Sorge: „sonst machst Du mir womöglich noch einen schönen Blödsinn!“ Er erklärt unter anderem, was Ionen sind und endet mit der Empfehlung: „Im Übrigen kannst du ruhig das Ganze einmal durchstudieren, dann verstehst Du vielleicht auch warum.“

Brief von Renate (6.8.1942)
Brief von Renate (6.8.1942)

Nach Beginn des Russlandfeldzugs 1941 werden die jungen Männer immer früher zum Kriegsdienst eingezogen – an der Ostfront fehlt es an Soldaten. Schüler verlassen mit einem sogenannten Notabitur die Weierhöfer Schule nach der 12. Klasse. Sie erhalten ihr Zeugnis erst zum regulären Termin ein Jahr später – ohne eine Prüfung abzulegen.

Hansjörgs Schulzeit ist im Januar 1942 vorüber. Sein Zeugnis der Reife wird ihm erst zugeschickt, als er seine Zugehörigkeit zur Wehrmacht nachweist. Ordnung muss sein! Und Papier sparen muss die NAPOLA auch – man streicht kurzerhand den Vordruck der Gau-Oberschule Donnersberg durch und setzt den Stempel der NAPOLA darüber.

In den Krieg

Im Februar 1942 wird Hansjörg zunächst der 2. Marschkompanie der Panzer-Ersatzabteilung 204 der Wehrmacht in Schwetzingen zugewiesen. Die Ersatzabteilungen sind dafür zuständig, Rekruten für den Fronteinsatz auszubilden.

Die Grundausbildung dauert acht bis zwölf Wochen. Hansjörg wird unter anderem am Gewehr 98, MG 34 und MG 42, an den Pistolen 08 und 38 sowie im Umgang mit Handgranaten, Brandflaschen und Minen geschult. Für den Einsatz als MG-Schütze vorgesehen, erfolgt nach weiteren sechs Monaten die Versetzung an die Front. Hansjörg bleibt jedoch ungewöhnlich lange in der Heimat, beschränkt auf einen Umkreis von nur 100 km um den Weierhof. Ende 1942 bzw. Anfang 1943 nimmt er an einem Infanterie-Lehrgang in der Goeben-Kaserne in Koblenz teil.

„Wir rücken vor“, Karte von Hansjörg an seine Mutter Hilda (1942)
„Wir rücken vor“, Karte von Hansjörg an seine Mutter Hilda (1942)
Ausbildungsnachweis, Gefreiter Hans Neff (1942)
Ausbildungsnachweis, Gefreiter Hans Neff (1942)

Neben einem regen Briefwechsel, der vor allem Neuigkeiten von Familie und Verwandten enthält, werden auch zahlreiche Päckchen verschickt. Er wird zudem gebeten, die leeren Kästchen samt Papier und Kordel zurückzuschicken, um Material zu sparen.

Hansjörg beginnt in dieser Zeit ein Tagebuch und führt es von März 1943 bis Januar 1944.

15. April 1943

Endlich ist es passiert. Wir sollen abgestellt werden. Wahrscheinlich nach […]. Ich bin nun Funker. […] Mir wäre schon lieber, wenn wir gleich nach Russland können. Es wird Zeit, daß das Warten nun ein Ende hat. Um Mutter mache ich mir Sorgen. Wie wird sie es aufnehmen? Ich habe noch nicht heim geschrieben. Eben darum, damit sie sich noch keinen Kummer machen. Solange ich hier bin, ist das noch nicht nötig. Und es ist auch besser, gleich vor die fertige Tatsache gestellt zu werden, als wenn ich schreibe. Es ist halt nur immer mit Mutter. Hoffentlich hat es keine schlimmen Folgen. Warum muss es ihr auch gerade jetzt schlechter gehen. […]

27. April 1943

Gestern kamen wir in die Stadt zur Feld-Einheit. Nun endlich! Ich bin mit Alfred zusammen. Jetzt muss es bloß noch klappen, daß wir in einen Zug kommen.[…] Alfred hat sich mit Mädels abgeben, was er sonst nicht tut. Während des Urlaubs muss irgendetwas geschehen sein. Ich glaube er ist doch irgendwie wieder wie ich. Wir haben ihn natürlich wegen seines veränderten Wesens aufgezogen und gefragt, was los war. Himmel sagte er meine „Jugendliebe“ hat geheiratet. Er hatte schon einmal ähnliche Bemerkungen mir gegenüber gemacht. Und ich?

Im Urlaub sah ich Hannelore trotz aller Bemühungen. Nur kurz gesprochen. Sie verreiste noch am selben Abend. Ich weiß nicht, wie sie zu mir steht. Als sie mich sah, kam sie gleich auf mich zu. Ich glaube auch, daß sie sich freute. Wir gingen ein kurzes Stück nebeneinander her. Sie sagte: „Gut siehst Du aus in der schwarzen Uniform“. Ja, und dann hatte ich das Gefühl, […] daß ich ihr alles sagen müsste, und so gingen wir einige Schritte nebeneinander und es lag irgendetwas in der Luft. Wenigstens dachte ich so. Als ich mir einen Anlauf zusammen hatte, sagte sie, sie müsse jetzt ins Krankenhaus hinauf und sie wolle sich verabschieden. Na, da habe ich sie gefragt, ob ich sie wiedersehen könnte. Da war sie etwas überrascht. Ich weiß noch genau, wie sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich änderte, ich blieb fragend zurück. Ich wusste nicht, wie ich es ihr erklären sollte und fragte, ob sie meinen Brief bekommen habe. Da sagte sie und lächelte wieder „Vielen Dank“. Ich hatte eigentlich auf diesen Brief eine andere Antwort erwartet und das habe ich ihr auch gesagt – nicht direkt. Da mussten wir beide lachen und dann haben wir uns verabschiedet. Abends ließ es mir keine Ruhe, und ich bin nochmals rübergefahren, doch ich kam zu spät. Gerade als ich an den Bahnhof kam, fuhr der Zug weg. Vielleicht bin ich mit der Tür ins Haus gefallen. Ich hätte es alles langsamer entwickeln müssen.

Hansjörg (1942)
Hansjörg (1942)

Im Frühjahr 1943 tritt Hansjörg seinen ersten Einsatz in der Normandie an. Zunächst wird er etwa 20 km von der Küste entfernt im Hinterland stationiert. Die Normandie ist zu dieser Zeit von Deutschland besetzt. Ab 1942 beginnt die deutsche Wehrmacht mit dem Ausbau des sogenannten Atlantikwalls, einer massiven Verteidigungsstellung entlang der Küste Westeuropas. Der Alltag der Solaten besteht vor allem aus dem Bau von Bunkern, Batterieanlagen und Schützengräben, um sich auf eine mögliche Landung der alliierten Truppen vorzubereiten. Hansjörg schreibt, dass es sehr viel regne, sein Französisch nur für die nötigste Verständigung ausreiche und die Bevölkerung „noch nicht einmal unfreundlich ist“. Wenige Tage darauf bittet er um die Zusendung eines Wörterbuchs, „je kleiner, desto besser!“

Während des Zweiten Weltkriegs werden Feldpostnummern verwendet, um die Postzustellung an militärische Einheiten zu organisieren und gleichzeitig deren genaue Positionen zu verschleiern. Hansjörg hat die Feldpostnummer 46780E, wobei die Hauptnummer für die militärische Einheit und der Buchstabe E für Kompanie/Batterie steht. Fast täglich verschickt er Briefe nach Hause. Er bereichtet kaum über seinen Alltag oder den Tagesablauf in Frankreich. Sein Interesse gilt vor allem dem Weierhof. In seinen Briefen reflektiert er über Neuigkeiten aus der Heimat, äußert Sorge um seine Mutter und fragt nach dem Wohl der Verwandten. Die Landwirtschaft oder sein Vater hingegen finden keine Erwähnung.

Auffällig ist, dass in seinen Briefen weder Politik, Propaganda noch die Verklärung der Kriegserlebnisse oder die Diffamierung des Feindes eine Rolle spielen. Auch Spannungen zwischen der französischen Bevölkerung und den deutschen Soldaten, Aktionen des Widerstands oder alliierte Luftangriffe auf deutsche Stellungen in Küstennähe werden mit keinem Wort erwähnt.

Kartenausschnitt Normandie aus Hansjörgs Nachlass

Hansjörgs Begeisterung für die Naturwissenschaften bleibt ungebrochen. Onkel Hans versorgt ihn mit den sogenannten Göschenbändchen, handlichen Lehr- und Studienbüchern für anorganische und physikalische Chemie. Hansjörg berichtet begeistert, dass er eifrig liest und seitenweise Blätter mit Berechnungen und Formeln füllt.

Dank der Unterstützung von Onkel Hans gelingt ihm schließlich im Juni 1944 die Fernimmatrikulation für das Fach Chemie an der Universität Heidelberg.

Seite mit Berechnungen aus Hansjörgs Nachlass
Seite mit Berechnungen aus Hansjörgs Nachlass

Anfang April 1944 erkrankt Hansjörg und verlässt die Normandie. Seine Briefe stammen nun aus dem Lazarettstandort Graal Müritz bei Rostock, wo leicht verletzte Soldaten versorgt werden. Möglicherweise ist seine Einheit bereits in Richtung Osten verlegt worden, und Graal-Müritz dient als das dafür zuständige Lazarett. Den Umstand, dass Hansjörg nicht mehr an der Front ist, kommentiert Onkel Hans Löber folgendermaßen:

16. April 1944

Lieber Hansjörg!
Für Deinen lieben Brief herzlichen Dank! Wir freuen uns alle, dass Du wieder gut in Deutschland bist, denn wir sind ja nicht von militärischen Ehrgeiz für Dich besessen.
Nun soll auch gleichzeitig das Chemiebüchlein und der Brief bezüglich Fernimmatrikulation an Dich abgehen, damit Du endlich zu diesen Dingen kommst.
Uns geht es im Ganzen gut. Woher kommt denn Deine Gelbsucht? Denn diese ist doch meist nur eine Nebenerscheinung einer anderen Krankheit. […]
Sei für heute recht herzlich gegrüßt mit den besten Wünschen zu guter Besserung von Deinem
Onkel Hans

Die beiden Geschwister vermissen ihren Bruder sehr. Sie bewundern ihn, er ist Ratgeber und wahrscheinlich auch Bindeglied zu den Eltern. In den Briefen nennt Renate Hansjörg „liebes Brüderlein“ und Ernst schreibt an den „lieben Hanne“.

N.P.E.A. am Donnersberg, 25. April 1944

Lieber Hanne,

heute will ich Dir mal wieder schreiben. Wir sind wieder eingewandert und der sture Betrieb geht wieder. Deinen Brief habe ich erhalten. Vielen Dank. Jetzt liegt Renate im Bett und hat Krippe [Grippe]. Na, hoffentlich nicht so schlimm. Hast Du übrigens meinen Brief erhalten, ich schickte ihn bald darauf fort. Ronni hat unterdessen ihr zweites Füllen „Rolf“. Roswitha wird prima. Du wirst staunen, wenn Du kommst. Gallés und Königs haben in einer Nacht Füllen bekommen.

Sonst ist weiter nichts auf dem Weierhof geschehen. Seit einigen Tagen ist Fliegertätigkeit wieder vermehrt. Heute morgen ist die Schule ausgefallen. Wir sind in den Wald gezogen und haben Feuerchen gemacht. Wirst Dich nicht drüber wundern, daß Deine Mahnung in einem der ersten Briefe nicht so schnuddelig zu sein, nichts nützt.

Nun komm bald wieder heim!

Gute Besserung, 

Ernst

Nach seinem Lazarettaufenthalt an der Ostsee kehrt Hansjörg zu seiner Einheit zurück, die sich jetzt in Dänemark befindet. Auch von dort schreibt er fast täglich nach Hause.

17. Juli1944

Lieber Ernst,
wie geht es zuhause? Besonders Mutter? Die Post rollt ja recht spärlich. Na, meine tut es ja auch. Die Ausbildung ist recht eintönig u. was gibt es da zu schreiben. Bei den Panzern war gar nicht die Zeit dazu, jeden Handgriff so immer u. immer wieder zu üben. […] An das Garnisonsleben habe ich mich so ziemlich gewöhnt. Was bleibt einem schon anderes übrig. Jetzt kann ich mir schon fast nicht mehr vorstellen, daß ich mal in Rußland rumzigeunert bin. […]

Der Krieg dauert bereits fünf Jahre. Ende August 1944 ist Hansjörg noch nicht an Kampfhandlungen beteiligt gewesen. Er fragt sich: „Ob es nun wohl einmal richtig ernst wird? Bisher bin ich ja immer noch gerade dran vorbeigekommen.“

Renate und Hansjörg sind im ständigen brieflichen Austausch. Sie berichtet regelmäßig von den Ereignissen in der Familie und auf dem Weierhof, fragt ihren Bruder um Rat und erledigt seine Wünsche. Hansjörg entgegnet, ganz der große Bruder, aufmunternd, ironisch foppend, oft auch besorgt.

14. Juli 1944

Liebe Renate,
heute mittag kam dein Brief u. gestern die vier Päckchen. Wenn das Konfekt auch nur noch Krümel waren, mit dem Löffel konnte man es noch essen. Es hat auch so ganz gut geschmeckt. Es ist allerdings nicht sehr vorteilhaft Konfekt und Zigaretten zusammen zu packen. So gut schmeckt der Tabak ja nun auch nicht. Nun also den recht herzlichen Dank. Auch für das Geld, das ich bei der letzten Löhnung am Elften erhielt. Briefpapier wird in nächster Zeit knapp. Wenn Du nichts mehr hast, in meiner Schreibtischschublade (links) muß noch liegen. Das habe ich voriges Jahr schon zuhause gelassen. Schreib mir bitte, aber nicht wieder alles durcheinander. […]

28. August 1944

Liebe Renate!
Heute Morgen kam dein Brief, die erste Post nach hier. Ich war froh endlich mal etwas zu hören, nachdem Ihr nun schon in jüngerer Zeit Kriegsgebiet geworden seid. Es muß doch ziemlich Betrieb bei Euch sein. Haben sie den Hungerberg auch wieder in Betrieb [FLAK-Stellung] genommen ? Du kannst ruhig ausführlicher berichten. Etwas deutlicher dürftest Du noch schreiben. Ihr denkt wohl auch nur mit einer halbernst gemeinten Selbstbeschuldigung und „hoffentlich kannst Du es lesen“, sei die Sache abgetan. Von Ernsts Taufe habe ich gar nichts gewußt. Kam das so plötzlich? Nun läuft er auch schon in langen Hosen rum. […]

 Er schreibt seinen letzten Brief am 4. Oktober 1944, zwei Monate nach seinem 20. Geburtstag und sechs Tage vor seinem Tod.

4. Oktober 1944

Meine Lieben,
ich will Euch heute Abend noch kurz etwas schreiben. Unsern schönen Bunker mussten wir leider verlassen. Dafür sind wir wieder etwas zurückgekommen. Wir sind wieder auf litauischem Gebiet. Wir gondeln immer so an der Grenze rum. Mal sehen, wie lange wir hier liegen bleiben. So besonders ist das Quartier hier nicht, zu fünfzehn Mann liegen wir in einer Stube. Das ist doch reichlich eng. Nu, allzu lange sind wir bestimmt nicht hier. Für heute Abend mache ich Schluss.
Ich schreibe Euch bald mal wieder, heute ist meine Übungszeit um. Ich gehe schlafen.
Also herzliche Grüße
Hansjörg

Der nachfolgende Brief hat Hansjörg wahrscheinlich nicht mehr lebend erreicht. Er befindet sich im Päckchen mit seinen wenigen Sachen, meist Briefen, das die Familie nach seinem Tod erhält.

Weierhof, den 5. Oktober 1944

Lieber Hansjörg,

Ich muss Dir doch auch mal wieder schreiben. Am Montag kamen 3 Briefe von Dir auf einmal an. Ich kann mir eigentlich gar nicht so richtig vorstellen, was Du eigentlich treibst. Nur gut, dass Du einen anständigen Verein erwischt hast.

Gestern habe ich es zum ersten Male richtig aus nächster Nähe schießen hören. 3 Jabos [Jagdbomber – alliierte Tieffliegert] griffen beim Marnheimer Bahnhof zwei Maschinen an und schossen sie kaputt. Das hat vielleicht geknattert. Vater meinte zuerst, sie hätten auf den Bulldog [Traktor] geschossen, der auf dem Flur war. Hier ist aber nichts passiert. Nur der 6-Uhr-Zug wurde vor Wachenheim angegriffen. Und da gab es dann 17 Tote. Ist das nicht ganz furchtbar? […]

Ernst tut nun schon eifrig [Er ist mit der Schulklasse zum Schanzen an der Saar]. Über seine Briefe muss ich immer lachen. Die sind aber auch zu echt Ernst. Aber wenn er nur schon mal wieder glücklich da wäre. Vor ein paar Tagen wurden 8 Jungen doch heimgeschickt, d.h. dass sie zu klein waren oder sonst etwas hatten. Der Zug wurde angegriffen. Gräser ist tot und Mang verwundet. Mich bringt so schnell niemand in einen Zug, wenn es nicht unbedingt sein muss.

Heute hat man es auch mal wieder Schießen gehört. Aber deswegen brauchen die Amerikaner doch noch lange nicht bis hierher kommen. Und da sind sie recht noch nicht. Viele von jenseits des Rheins meinen, sie seien schon bald hier. Eben ist Entwarnung. Dann gehe ich gleich ins Bett.

Viele liebe Grüße

Renate

Zurück an Absender – Empfänger gefallen für Großdeutschland

Hansjörg dient als Funker in einer Nachrichtenstaffel des Panzerverbands Lauchert, der der 16. Armee der Heeresgruppe Nord unterstellt ist. Ende September 1944 verteidigt der Verband in den Rückzugsgefechten gegen  sowjetische Armeestellungen in Litauen, nahe Königsberg (heute Kaliningrad, Russische Föderation).

Am 7. Oktober wird Hansjörg während der Kämpfe vier Kilometer östlich von Teltsch (heute Telšia, Litauen) verwundet. Er wird zunächst vom Gefechtsfeld auf einen Hauptverbandsplatz gebracht und anschließend in das Armeelazarett 2 in Insterburg (heute Tschernjachowsk, Russische Föderation) verlegt. Am 10. Oktober 1944 erliegt er dort den Folgen einer Bauchschusswunde.

Bruder Ernst erinnert sich an den Moment, als die Familie die Nachricht von Hansjörgs Tod erhält. Mutter, Vater, Renate und Ernst stehen im Hausflur als ein Mann – vermutlich der Ortskommandant aus Marnheim – das Telegramm überbringt. Mutter Hilda sinkt auf den Kohlenkasten nieder, der dort steht, und Vater Hans verlässt das Haus, mit den Worten: „Jetzt ist alles vorbei.“ 

Telegramm mit Hansjörgs Todesnachricht (1944)
Telegramm an den Ortsgefreiten der NSDAP in Weierhof, Marnheim, Pfalz: Gefreiter Hans Neff geboren am 13.8.1924 am 10.10.1944 im hiesigen Lazarett verstorben. Bitte um Benachrichtigung der Angehörigen. Überführung nicht möglich. Beerdiung findet voraussichtlich Donnerstag, den 12.10.1944 auf dem Heldenfriedhof Insterburg statt. Nachricht ab Teilnahme der Angehörigen an Beerdigung. Armeelazarett 2, Insterburg

Die Familie erreicht eine Vielzahl von Beileidsbekundungen, die von tiefem Mitgefühl und Anteilnahme geprägt sind. Besonders Mutter Hilda wird in dieser schweren Zeit viel Trost und Kraft zugesprochen. Viele der Botschaften spenden Halt im Glauben an Gott und schließen in der Zuversicht, dass Hansjörg in die ewige Seligkeit vorausgegangen ist.

Hansjörgs Onkel Hans schreibt am 20. Oktober 1944 an die Eltern Hilda und Hans:

Meine Lieben,

Nun ist die schlimmste Befürchtung, die wir bisher für den Krieg haben mussten, zur traurigen Tatsache geworden: unser lieber Hansjörg musste sein junges, hoffnungvolles Leben lassen – er kommt nicht mehr heim zu uns. So viele der Todesnachrichten auch nun in diesem Jahr. Keine traf uns so im Innersten wie diese. War er mir doch besonders in den letzten Jahren immer mehr ans Herz gewachsen, sowohl wegen seiner feinen und bestimmten Art als auch wegen der vielen gemeinsamen Interessen, die uns verbanden. So musste ich den hergeben, der mir von all den jungen Leuten am nächsten stand. Aber, dass wir ihn verlieren, ist nicht das schwerste; dass seinem jungen Leben, das so voll berechtiger Hoffnungen für die Zukunft war, ein so frühes Ziel gesetzt wurde, das ist das Schwerste!

Möge Gott Euch Kraft geben, das zu tragen! Ein kleiner Trost: er weilt in deutscher Erde und wir werden, so Gott will, sein Grab aufsuchen dürfen, wenn der grausame Krieg vorbei sein wird.

Was wird uns bis dahin noch erwarten! Wir sind in trauerndem Gedenken bei Euch.

Für heute Euch Lieben, herzliche Grüße

Euer Hans

Die familiäre Situation ist bereits durch die schweren Depressionsphasen von Mutter Hilda belastet. Der Tod des Ältesten, auf dem so viele Hoffnungen und Erwartungen ruhen und der für die Familie eine wichtige Quelle von Stärke und Zusammenhalt ist, macht die Situation nahezu unerträglich. Ernst ist kaum mehr zu Hause und versucht, der Situation zu entfliehen. Später wird er sagen: „Ich wusste nicht, was eine Familie ist.“ Renate muss das Gymnasium kurz vor dem Abitur verlassen, um sich um den Haushalt zu kümmern. Jeder bleibt sich selbst überlassen.

In einem Gedächtnisgottesdienst erinnert Großvater, Christian Neff, an Hansjörg: “ Wir trauern um ihn schmerzbewegt. […] Unsere erwachsene Jugend auf unserem kleinen Hof ist mit wenigen Ausnahmen aufgeopfert. Der Tod hat eine Lücke unter uns gerissen, die sich für uns nicht mehr schließt.“

Die letzten an Hansjörg gerichteten Briefe kehren mit dem Vermerk „Zurück an Absender – Empfänger gefallen für Großdeutschland“ zurück. Renate wendet sich an die Dienststelle von Hansjörgs Einheit, um Informationen über seinen Nachlass zu erhalten. In der Antwort des Einheitsführers wird ihr mitgeteilt, dass derzeit keine Verbindung zu Hansjörgs Nachrichtenstaffel besteht. Der Brief schließt mit den Worten: „Ich spreche Ihnen nochmals, auch im Namen der Kameraden Ihres Bruders, mein aufrichtiges Beileid aus. Möge die Tatsache, dass Ihr Bruder im Kampf gegen den bolschewistischen Weltfeind sein junges Leben für die Freiheit des Vaterlandes opferte, Ihnen Trost in Ihrem großen Schmerz sein.“

Hunderte von Briefen, darunter die meisten von Renate, die sie zwischen 1942 und 1944 an Hansjörg schrieb, finden ihren Weg zurück auf den Weierhof.

Sein Grab hingegen wird von der Familie niemand mehr besuchen.

Hansjörg Neff liegt auf der Kriegsgräberstätte in Tschernjachowsk (ehemals Insterburg) in der russischen Oblast Kaliningrad (ehemals Königsberg, Ostpreußen).

Kriegsgräberstätte in Tschernjachowsk
Kriegsgräberstätte in Tschernjachowsk