Else Löwenberg

Else Löwenberg

Kindheit zwischen Verlust und Geborgenheit

Agnes Elisabeth, genannt Else, wird am 11. April 1887 als jüngste Tochter von August Löwenberg (1851-1896) und Babette (Barbara) Krehbiel (1851-1898) geboren. Sie hat drei ältere Brüder: Otto (1875-1952), Jakob (1877-1939) und Rudolf, genannt Rudi (1879-1965). Ihre Kindheit  wird von schweren Schicksalsschlägen überschattet.

Sie ist 9 Jahre alt als ihr Vater an Tuberkulose stirbt. Elses Mutter, die bereits vor ihrer Geburt erblindet war, zieht mit ihr in den Nachbarhof Ins Jakobs zu ihrer Cousine Johanna Elisabeth Dahlem (1869-1928) und deren Mann David Galle (1863-1939). Nur zwei Jahre später stirbt auch ihre Mutter. Nun ist Else mit 11 Jahren Vollwaise. Da ihre Brüder den Weierhof bereits wegen ihrer Ausbildungen verlassen haben, übernimmt David Galle die Vormundschaft für Else. In den Gedichten „Mein Vater“ und „Meine Mutter“ verarbeitet Else dichterisch den Tod ihrer Eltern.

Aus einer der angesehensten Familien des Weierhofs stammend, stellt dies den vorläufigen Tiefpunkt einer Reihe dramatischer Veränderungen in Elses Leben dar. Ihr Vater August wächst Ins Jakobs als Sohn von Michael Löwenberg (1821-1874) auf. Ihr Großvater Michael ist Unternehmer, als Bäcker und Landwirt erfolgreich sowie auch geistig prägend als Gründer der späteren Realanstalt am Donnersberg und Prediger der Mennonitengemeinde Weierhof. Der erste entscheidende Wendepunkt im Leben der Löwenbergs ist, dass Elses Vater August sich beim Kauf der Schlossmühle in Altleiningen finanziell übernimmt und die Familie auf den Weierhof zurückkehren muss. Dort richtet August im Weberhäuschen eine Schmiedewerkstatt ein und betreibt eine kleine Landwirtschaft. Der Ruf, finanziell gescheitert zu sein, bleibt an der Familie haften und wird von einigen Verwandten noch an nachfolgende Generationen weitergegeben.

Else fühlt sich in ihrer neuen Familie glücklich und geborgen. Für sie wird dieses Zuhause auf dem Weierhof zu einem zweiten Heim, geprägt von „christlichem Geist und heiterer Lebenslust“. Ihre Brüder hingegen sieht sie nur während deren Urlaube auf dem Weierhof. Otto schlägt eine Karriere als Maschinenbauer ein und lebt in Köln. Jakob zieht es als Kunstschlosser nach Berlin, während Rudi in der Region bleibt und als Schreiner und Möbelbauer arbeitet. Else erinnert sich: „Doch den Abschied von ihnen bestand ich immer ohne Tränen.“

Ihre Fähigkeit, sich neuen Umgebungen und Menschen anzupassen und ihr Wille zur Unabhängigkeit, verbunden mit ihrem festen Glauben, tragen entscheidend dazu bei, die zukünftigen Herausforderungen in ihrem Leben zu meistern.

Elses Abschlusszeugnis (1900)
Elses Abschlusszeugnis (1900)

Im Frühjahr 1900 beendet Else die Volksschule in Bolanden. Ihr Abschlusszeugnis bescheinigt ihr u.a., dass sie „viele Fähigkeiten“ hat, der Fleiß „sehr groß“ und das religiös-sittliche Betragen „sehr lobenswert“ ist. Somit ist ihre Schulkarriere mit nur 13 Jahren beendet.

Else hilft im Haushalt ihres Vormundes mit und kümmert sich als Älteste um die vier kleineren Pflegegeschwister: Johanna Christina, genannt Hanni (1894-1919), Wilhelm (1895-1916), Christian (1897-1970) und Hermann Thomas (1907-1982).

Else ist sehr kunstinteressiert. Sie singt gerne, sie hat Spaß an der Schauspielerei und am Verkleiden.
Aber ihr großes Hobby ist das Lesen. Vor allem begeistern sie Gedichte: „Gedichte waren schon immer meine große Liebe. Die in den Schulbüchern standen, kannte ich alle, auch die, die nicht auswendig gelernt werden mussten. Dabei erwachte der Wunsch, selber einmal Gedichte zu schreiben.“ Else tut dies und berichtet davon, dass sie ihre Gedichte im Familienkreis zunächst unbekümmert vorträgt, bis ihr Pflegevater dazu bemerkt: „Nun, wenn Du wirklich Talent hast, wird sich das mit der Zeit offenbaren; Gelegenheitsgedichte schreiben viele, die doch keine Dichter sind.“

Freundinnen: Lisbeth März, Hanni Gallé, Else, Thilde und Dora Neff (Ostern 1910)
Freundinnen: Lisbeth März, Hanni Gallé, Else, Thilde und Dora Neff (Ostern 1910)
Kaffeekränzchen in Kostümen, Else, 2. v.r. sitzend (ca. 1910)
Kaffeekränzchen in Kostümen, Else, 2. v.r. sitzend (ca. 1910)

Wanderjahre und Erster Weltkrieg

Else ist sich früh bewusst, dass sie finanziell auf eigenen Beinen stehen muss. 1903 beginnt sie mit 16 Jahren eine hauswirtschaftliche Ausbildung in der Staatsdomäne Bronnhaupten bei Balingen. Gutsverwalter ist die Familie Ernst, mit der Else weitläufig verwandt ist. 

Auf dem 185 Hektar großen Gut lebt die Familie mit neun Kindern und 30 Angestellten und Auszubildenden. Begeistert berichtet Else von ihrer Lehrzeit und hebt besonders die Gemeinschaft mit den vielen anderen jungen Leuten hervor. Danach kehrt Else zunächst wieder auf den Weierhof zurück.

Staatsdomäne Bronnhaupten
Staatsdomäne Bronnhaupten
Else beim Fototermin (ca. 1915)
Else beim Fototermin (ca. 1915)

 „Mein Blut aber war unruhig geworden. Geist und Seele verlangen nach neuen Eindrücken und Erlebnissen. Die Stadt wollte ich kennenlernen – ihre Menschen und Gewohnheiten – von dem, durch breite Stassen flutendem Leben mitgerissen werden und vor Schöpfungen hoher Kunst, staunend verweilen.“ Else erwähnt, dass sie diese Pläne auch in die Tat umsetzen kann. Wo genau sie sich jedoch aufhält und was sie genau tut, ist nicht bekannt.

Ihre Wanderjahre werden durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Else lebt wieder auf dem Weierhof.

Sie pflegt eine ausgedehnte Korrespondenz mit bekannten und verwandten Soldaten. Neben der patriotischen Pflichterfüllung dürfte es ihr auch ein Anliegen gewesen sein, den Soldaten zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind. Das Schreiben selbst ist etwas, das sie ohnehin begeistert. Es scheint zudem, dass sie innerhalb des Weierhöfer Freundeskreises und der Gemeinde als eine zentrale Anlaufstelle fungiert und einen regen Austausch von Alltagsinformationen und Ereignissen zwischen der Front und der Heimat fördert.

Weierhof, den 27. Januar 1917

Lieber Erich [Göbel]!

Eigentlich dürfte ich Dir ja nicht gleich wieder schreiben, sondern müsste Dich auch mal recht lange auf einen Brief warten lassen. Wenn ich mir aber überlege, was dabei rauskäme, will es mir doch klüger erscheinen, Dich nicht warten zu lassen. Die Bestrafte wäre ja doch wieder nur ich, weil ich dann nur noch länger auf Nachricht von Dir warten müsste. Deshalb allen Trotz beiseite, ein freundliches Gesicht und Dank für Deinen lieben Brief. – Wie ich aus Deinem lieben Brieflein ersehe, können wir Dir noch nicht so bald die Hand drücken, wie wir dachten. Es hieß nämlich hier, Du kämst recht bald schon. So geht es halt und nun scheint auch eine recht kritische Zeit zu kommen für den Urlaub. In den Garnisonen ist er nun gesperrt bis 19. Februar. Hans [Neff] werden wir deshalb vor seinem Abrücken in das Feld, auch nicht mehr zu sehen bekommen. Er hoffte, dass sie in den nächsten Tagen eingekleidet werden und dann bald hinauskommen. Er kann es fast nicht mehr abwarten bis es so weit ist. Bei den 12-ern gefällt es ihm halt auch gar nicht, das mag dazu beitragen, dass er sich sehr hinaus sehnt. – Christian [Gallé] schreibt mir und überhaupt auch den anderen allen, sehr fleißig. Er wird sich gewiss freuen, wenn Du ihn einmal aufsuchst. Manchmal habe ich so das Gefühl, wenn ich seine Briefe lese, als habe er hie und da ein bisschen Heimweh. Zu verwundern wäre es ja nicht, wenn es ihn manchmal ein wenig packen würde, er war doch vorher nie von daheim weg. – Weißt Du, der Rudi [Löwenberg], das ist mir noch der Allerschönste. Einen Tag vor seiner Verlobung, kam er zu mir und erklärte mir ganz kalt, morgen fahre er fort und verlobe sich und ich soll mal raten, mit wem? Zuerst glaubte ich ihm überhaupt kein Wort von der ganzen Rede. Schließlich sah ich ihm doch an den Augen an, die so einen eigenen Glanz hatten, dass es bitterer Ernst ist, aber raten – nein, das konnte ich nicht! Auf unser Bäschen Johanna wäre ich in Ewigkeit nicht gekommen. – Mutter geht es recht gut, sie lässt Dich herzlich grüßen.
Aller herzlichsten Gruß von Deiner Else

P.S. Hier in der Gegend erzählen sich eben die Leute, der Hindenburg sei mit seinem Staab in Kreuznach!!

Weierhöfer Freunde, Christian Gallé, Thilde Neff, Else, Ina und Hans Neff (ca. 1920)
Weierhöfer Freunde: Christian Gallé, Thilde Neff, Else, Ina und Hans Neff (ca. 1920)

1. Juni 1917

Liebe Else, 
Dieses Mal ist es wirklich nicht meine Schuld, dass ich Dich wieder etwas warten ließ. Pfingstsonntag früh sind wir in unserem schönen Ruhequartier in Halluin alarmiert worden und machten in glühender Pfingstsonne einen Vormarsch, einige Kilometer der Front näher. Nun liegen wir in Pferdebaracken und harren der Dinge die da kommen sollen. In den letzten Tagen, besonders in der vergangenen Nacht, war draußen (Wytschaete-Bogen) ein Mordsgerumpel, das auf allerhand schöne Sachen schließen lässt. Wir sind bereit sie zu empfangen, dieses elende Gesindel, um ihnen hoffentlich die letzten deutschen Prügel zu geben, damit sie endlich mal einsehen, wer eigentlich nicht gewillt ist, sich alles gefallen zu lassen. Und dann wird uns hoffentlich der heiß ersehnte Friede beschert, um den wir jetzt noch kämpfen müssen, der uns beinahe noch, wie ein unerfüllbarer schöner Traum erscheint. Und dann glückselig der, der unter der Schar der heimkehrenden Sieger die langentbehrte, heißersehnte Heimat wieder grüßen darf. Doch auch der ist glücklich zu preisen, aus dessen Blut dieser Friede, der uns eine sichere, ruhige, von niemand angefochtene Zukunft bringen soll, zusammengeschweißt wurde. „Und soll‘ ich einst im Siegesheimzug fehlen, weint nicht um mich, beneidet mir mein Glück!“ –
Pfingstsonntagabend war mir in Lille noch das Glück zu Teil, den Siegfried [Oper von Richard Wagner] sehen und hören zu dürfen. Wie Du Dir denken kannst, haben die gewaltige Musik und der unweigerlich tiefe Sinn einen starken Nachhall in mir zurückgelassen, von dem ich noch lange zehren werde, in guten und in bösen Tagen. Wo Hans [Neff] zurzeit steckt, habe ich keine Ahnung, er muss wohl in meiner Nähe sein, es ist eben furchtbar schwer, sich zu finden. Lothar Ellenberger kommt in meinen M.G.-Kurs nach Hammelburg, heute fährt er weg. – Sollte es mir nicht mehr möglich sein, Ina [Neff] noch mal zu schreiben, was ich jedoch nicht hoffe, grüße sie bitte!
Und sei herzlichst gegrüßt von Deinem getreuen Erich

Erich Göbel in Ausgeh-Uniform (ca. 1914)
Erich Göbel in Ausgeh-Uniform (ca. 1914)

[Erich Göbel stirbt eine Woche später am 7. Juni 1917 in der Nähe von Ypern in Belgien.]

Else sammelt Zeitungsausschnitte sowie Briefe, Postkarten und Bilder, die sie von weit über 50 Soldaten erhält. Es sind Verwandte, Freunde und ihr teilweise unbekannte Personen, wie Regimentskameraden und Fahrer ihrer Bekannten. Nach dem Krieg stellt sie diese Erinnerungsstücke in einem selbstgestalteten, großformatigen Gedenkalbum mit über 50 Seiten zusammen, dass fast wie eine Art Ausstellung wirkt.

In ihren persönlichen Erinnerungen hingegen erwähnt sie rückblickend den Ersten Weltkrieg nur ganz kurz: „Auch in unserem abgelegenen Weiler war der Krieg eingekehrt. Nachrichten von gefallenen Söhnen und Brüdern betrafen mich nie direkt, doch trauerte ich mit den Betroffenen im Herzen mit.“ Der Zweite Weltkrieg bleibt in ihrem Lebensrückblick sogar völlig unerwähnt.

Während des Ersten Weltkriegs besucht Else Soldaten im Lazarett im nahegelegenen Ramsen. Es ist wahrscheinlich auch Else, die Fotografien der einzelnen Weierhöfer Häuser und der Dorfansicht organisiert, die an die Soldaten an die Front geschickt werden und später in jedem Weierhöfer Haus zu finden sein werden. Else ist auf fast jedem dieser Fotos zu sehen.

Else mit ihrem Verlobten Gustav Krehbiel (ca. 1915)
Else mit ihrem Verlobten Gustav Krehbiel (ca. 1915)

Bereits 1911 hat sich Else mit dem Weierhöfer Gustav Krehbiel (1886-1926) verlobt. Gustav ist ein Nachbarsjunge aus Ins Schowalters. Sie ist bereits 24, als die Verlobung erfolgt, und auch die Kriegssituation, die Verlobte in dieser Zeit oft zu einer schnellen Eheschließung drängt, führt nicht dazu, dass die beiden heiraten. Letztendlich ist es Else, die nach sieben Jahren die Verlobung auflöst. „Im letzten Kriegsmonat aber, wurde mir die Aufgabe gestellt, eine mir aus bräutlichem Verhältnis erwachsene bittere Enttäuschung, entscheidend zu beantworten: Ich zog den glatten Reif vom Finger und gab ihn zurück. Niemand in meinem Lebenskreis hatte das verstanden. Ich allein wusste, dass mir die Weisung diese Bindung zu lösen, vom Himmel her zugegangen war.“ Gustav promoviert und wird später Studienrat an einer Schule in Ludwigshafen. Nach seiner Hochzeit mit Elisabeth Zimmermann im Jahr 1921 bekommen sie zwei Kinder. 1926 begeht Gustav Selbstmord durch eine „selbst herbeigeführte Gasvergiftung“, so der Eintrag im Weierhöfer Kirchenbuch.

Mit dem Ende der Verlobung steht für Else fest, dass sie den Weierhof hinter sich lassen will. Mit über 30 wagt sie einen Neuanfang und beginnt eine Ausbildung zur Lehrschwester im Universitätskrankenhaus in Heidelberg – eine mutige Entscheidung und eine große Herausforderung zugleich. Der Alltag im Krankenhaus fordert sie in vielerlei Hinsicht: Lange Schichten, unermüdliches Lernen und wenig Zeit für sich selbst. Rückblickend wird sie eine Erfahrung als besonders prägend bezeichnen: Im Krankenhaus verblassen soziale und wirtschaftliche Unterschiede. Stattdessen schafft die gemeinsame Erfahrung von Krankheit und Schmerzen eine universelle Gleichheit und verbindet die Menschen zu einer Gemeinschaft.

Else als Krankenschwesterschülerin (ca. 1919)
Else als Krankenschwesterschülerin (ca. 1919)

In der Schweiz

Im Jahr 1922 erhält Else eine Anfrage von ihrem entfernten Onkel Johannes Jakob Bänziger, einem ehemaligen Lehrer an der Weierhöfer Schule. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau Maria Krehbiel, die aus Ins Schowalters stammt, bittet er Else, seinen Haushalt zu übernehmen. Sie kündigt daraufhin ihre Stelle und verlässt Heidelberg innerhalb nur einer Woche.

Der Haushalt in Basel ist klein und Else ergreift die Gelegenheit, in die Kultur der alten Rheinstadt einzutauchen. Sie besucht Vorträge, Konzerte und Theatervorstellungen und wird nach einem Probesingen in den Oratorienchor „Basler Gesangsverein“ aufgenommen. Besonders angetan haben es ihr die Vorleseabende namhafter Dichter und Schriftsteller. Sie entdeckt ihre alte Liebe zur Dichtung neu und die vielen kulturellen Einflüsse inspirieren sie, wieder mit dem Schreiben zu beginnen.

Maria Krehbiel und Johannes Jakob Bänziger (ca. 1905)
Maria Krehbiel und Johannes Jakob Bänziger (ca. 1905)

 Else lernt den Baseler Dichter und Kritiker Fritz Liebrich kennen und fasst den Mut, ihm ihre poetischen Manuskripte vorzulegen. Er erkennt ihr Talent, gibt wichtige Impulse und den Rat ihre eigene kreative Stimme zu stärken und sich „handwerklich“ zu verbessern. Sie zitiert ihn: „Talent ist eine Gabe Gottes – das Handwerk kann man lernen.“ Else schätzt den Austausch mit dem Kritiker, sieht ihn als ihren Mentor.

Else ist während ihres Aufenthalts in Basel für Christian Neff tätig, der zu dieser Zeit an der Herausgabe des Mennonitischen Lexikons arbeitet. Sie recherchiert und kopiert Schriftstücke, die im Zusammenhang mit den Täufern stehen. 1926 legt sie einem Paket mit fünf Heften, die den Abschrieb von Schriftstücken enthalten, einen Brief bei, in dem sie schreibt: „Hoffentlich können Sie meine Schreiben lesen, ich werde mich wohl manchmal verschrieben haben, weil der Druck oft nicht gut zu lesen war und ich dann nicht wußte wie das Wort heißen soll. Es kann sich aber nur um einzelne Buchstaben handeln, die Sie dann schon richtig ersetzen werden. Wenn ich Latein könnte, wäre mir natürlich das nicht passiert.“

Nach dem Tod von Johannes Bänzinger 1927 tritt Else eine neue Stelle als Haushälterin im evangelischen Pfarrhaus bei Pfarrer Urner im nahegelegenen Liestal an. Mit der Familie wird sie eine lebenslange Freundschaft verbinden. Den Sommer 1930 verbringt sie auf einem Emmentaler Bauernhof und widmet sich ganz ihren Gedichten. Sie lässt sich inspirieren von der sie umgebenden Natur, dem Ausblick auf die Berge, den Wiesen, den gepflegten Höfen und Gärten der näheren Umgebung.

Else (ca. 1918)
Else (ca. 1918)

Wieder zurück in Basel findet sie erneut Arbeit als Haushälterin. 1932 erkrankt sie jedoch schwer und muss sich einer Operation unterziehen. „Vielleicht muss ich auch selbst aus dieser schweren Operation etwas mit fortnehmen, was mich für immer in die Reihe der Leidenden stellt. Ach, ich kann das wohl nicht begreifen und hoffe immer noch Gott werde sich erbarmen und mir meine köstliche Gesundheit wieder schenken. Sie war doch eigentlich das Einzige, was mir in der Welt wirklich gehörte. Ich meinte es wenigstens.“

Dichterin

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird das Schreiben von Frauen, insbesondere das Verfassen von Gedichten, kaum als gesellschaftlich angemessene Tätigkeit angesehen. Auf dem Weierhof ist die Rolle der Frau traditionell auf Familie und Haushalt beschränkt. Unter ihren Altergenossinnen ist Else die Einzige, die eine richtige Berufsausbildung absolviert, einer eigenen beruflichen Tätigkeit nachgeht und künstlerisch-literarisch ambitioniert ist.

Zwar interessieren sich ihre Freundinnen für Kunst und Kultur, manche spielen ein Instrument. Auffällig bleibt jedoch, dass Mädchen und Frauen der Mennonitengemeinde Weierhof kaum eine weiterführende oder gar akademische Ausbildung erhalten. Der Besuch einer Höheren Töchterschule ist zwar nicht unüblich, doch dient deren Besuch dazu, auf die Rolle als Ehefrau eines gesellschaftlich angesehenen Mannes vorbereitet zu sein.

So muss Else sich sicherlich auch mit Vorurteilen und Widerständen auseinandersetzen. Doch es gelingt ihr, einen Weg zu finden, um im privaten und lokalen Umfeld als Künstlerin Anerkennung zu erlangen.

1932 ist es dann endlich soweit. Else entschließt sich einen eigenen Gedichtband zu veröffentlichen. Nachdem die Auswahl getroffen ist, sucht sie noch einmal den Rat von Fritz Liebrich, ihrem Schweizer Mentor. Die Gedichtsammlung Daheim und andere Verse erscheint in kleiner Auflage im E. Piersons Verlag, Dresden. Ihr Bruder Rudi verkauft den Gedichtband in seinem Schreibwarenladen im Weberhäuschen.

Else Löwenberg - Daheim und andere Verse
Else Löwenberg - Daheim und andere Verse
Elses Exemplar von Daheim und andere Verse
Elses Exemplar von Daheim und andere Verse

Nach der Veröffentlichung ihres Gedichtbandes schreibt Else auf dem Weierhof viele Natur- und Heimatgedichte, die sie in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Da ist zunächst die regionale landwirtschaftliche Wochenzeitung Pfälzer Bauer und deren Jahreskalender sowie die Zeitschrift Scholle und Heimat. Else gibt an, dass in diesen beiden Zeitschriften ungefähr 170 ihrer Gedichte veröffentlicht wurden. Immer mal wieder erscheint auch ein Gedicht in der regionalen Tageszeitung Die Rheinpfalz.
Ab Herbst 1945 lädt Else im Haus Löwenberg Gäste zu musikalisch-literarischen Feierstunden ein. Gemeinsam mit der Pianistin und Klavierlehrerin Lydia Stauffer-Haury richtet sie auf dem Weierhof einen kleinen Kunstsalon aus. Bei diesen Abenden versammeln sich meist etwa 40 bis 50 Zuhörer, um Musik und Gedichten zu lauschen. Neben Natur und Heimat ist eine ganz wichtige Inspiration ihr christlicher Glaube.

Gedicht von Else: Regenbogen

➚ Transkript

Zu vielen Anlässen und Feiern verschenkt Else kleine Heftchen mit ihren Gedichten. Oft schreibt sie Gedichte speziell für den jeweiligen Anlass, tippt sie auf ihrer Schreibmaschine ab, legt die Blätter in einen Kartoneinband und versieht ihn mit einem schönen Aufkleber. Das fertige Heftchen übergibt sie dann dem jeweiligen Jubilar und trägt das Gedicht auch meist selbst vor.

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Des Weiteren verfasst sie kleine und größere Theaterstücke, die auf dem Weierhof von Kindern und Jugendlichen aufgeführt werden.

In vielen Gedichten bringt sie ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Überzeugungen als Christin zum Ausdruck. Besonders diese Gedichte, aber auch Kurzgeschichten, werden u.a. im Mennonitischen Gemeindekalender veröffentlicht.

Manuskript des Theaterstücks "Der Erntekranz" (ca. 1938)
Manuskript des Theaterstücks "Der Erntekranz" (ca. 1938)
Artikel in der Rheinpfalz (1973)
Artikel in der Rheinpfalz (1973)

1970 schreibt sie in ihren Erinnerungen: „Allein, die Not der Zeit-Berichte aus aller Welt über den Abfall der Christen vom Glauben, beschäftigen mich innerlich sehr und erweckten in mir den Wunsch, mit Gedichten darauf zu antworten. So wurden mir von Gott im hohen Alter noch Kräfte, auch zur Gestaltung geistlicher Gedichte, geschenkt, die nun mein Schaffen krönen sollen.“

Gedicht von Else:  Umstrittene Bibel

➚ Transkript

Zurück auf dem Weierhof

Geschwächt zieht Else 1932 wieder auf den Weierhof – und zwar für immer. 

Erst nach einer weiteren Operation erholt sie sich langsam. Else ist nun 46 Jahre alt, lebt in einem kleinen Zimmer im Obergeschoss des Weberhäuschens und hilft im Haus und Laden ihres Bruders Rudi. Else wird in die Hausgemeinschaft aufgenommen, ist Teil der Familie und wird versorgt. Auch als die nächste Generation das Weberhäuschen übernimmt, ist Else selbstverständliches Familienmitglied und geliebte Tante.

Else auf dem Weierhof (ca. 1950)
Else auf dem Weierhof (ca. 1950)
Schreibmaschine von Else
Schreibmaschine von Else

Die Möglichkeit ihr eigenes Geld zu verdienen – wie sie es zuvor in Basel gewohnt war und sicherlich auch schätzte – besteht nun nicht mehr. Wohl auch in Anbetracht ihrer finanziellen Abhängigkeit lebt sie sehr zurückgezogen in ihrem Zimmer und nimmt nur selten an Familienaktivitäten teilen. Im Wechsel mit den anderen Frauen im Haushalt übernimmt sie sonntags das Kochen des Mittagessens. Im Hause Löwenberg ist es Tradition, das Essen unmittelbar nach dem Kirchgang einzunehmen, d.h. eine Frau des Hauses bleibt zu Hause und bereitet das Essen vor. Else widmet sich umso intensiver ihrer Leidenschaft für die Dichtung. Sie veröffentlicht eifrig Gedichte und die kleinen Honorare dafür bieten sicherlich ein willkommenes Zubrot.

Eine Anekdote erzählt, dass Else mit über 70 Jahren im Gottesdienst nicht länger auf den harten Holzbänken sitzen will. Sie stellt einen Antrag, dass die Mennonitengemeinde Sitzkissen anschaffen soll, um den Gottesdienst für alle angenehmer zu machen. Der Antrag wird jedoch aus finanziellen Gründen abgelehnt. Else lässt sich davon nicht entmutigen: Sie sammelt das benötigte Geld selbst, indem sie die Mitglieder der Gemeinde auf dem Weierhof und in der Umgebung persönlich anspricht und für ihre Idee gewinnt. Dank ihres Engagements können bald alle in der Kirche bequemer sitzen.

Elses Leben ist geprägt durch den Wechsel zwischen dem Weierhof und der Welt da draußen: die Heimatverbundenheit und die Neugier auf Neues, dem Streben nach Unabhängigkeit, dem Ausbrechen und Zurückkehren, sowie der Suche nach einem eigenen Weg zwischen den traditionellen Rollen einer Hauswirtschafterin und einem Leben jenseits der Konventionen als Dichterin und unabhängige Frau. Letztendlich wird sie jedoch über 60 Jahre ihres Lebens auf dem Weierhof verbringen.

„Tante Else“ stirbt mit 92 Jahren in ihrem Zimmer im Weberhäuschen. Kurz zuvor sagt sie noch: „Mich hat der liebe Gott vergessen.“

Else auf einem Ausflug mit Weierhöfern (ca. 1965)
Else auf einem Ausflug mit Weierhöfern (ca. 1965)