
Mennoniten im Großen Danziger Werder
Ansiedlung und Leben unter polnischer und preußischer Herrschaft
Die ersten Mennonitengemeinden in Westpreußen (heute Polen), das damals Teil des polnischen Königreiches war, haben ihre Anfänge bereits im frühen 16. Jahrhundert. Täufer aus den Niederlanden, aus Flandern und Friesland, finden hier Zuflucht. Im Großen Werder, dem Gebiet südöstlich von Danzig, zwischen Nogat und Weichsel, bilden sich anfänglich vier Gemeinden, eine davon ist die Gemeinde Heubuden. Das erste Versammlungshaus wird dort um 1768 errichtet.
Um in Westpreußen leben und ihren Glauben ausüben zu können, sind die Mennoniten als religiöse Minderheit auf den Schutz der Obrigkeit und besondere Privilegien zur Ausübung ihres Glaubens angewiesen. Zur Erlangung dieser Privilegien werden sie zu unterschiedlichen Zeiten mit Extrasteuern belegt, die Beschlagnahmung ihres Eigentums wird angedroht und ihre Ausweisung gefordert. Somit ist es wichtig, bei den unterschiedlichen Behörden vorstellig zu werden, um die eigene Existenz weiterhin zu sichern. Zunächst noch Teil Polens, wird Westpreußen nach den verschiedenen polnischen Teilungen (1792-1795) ein Teil des Königreichs Preußen und Privilegien müssen nun neu verhandelt werden.


War die Wehrlosigkeit für den polnischen Staat kein großes Zugeständnis, so müssen die Mennoniten jetzt 5.000 Reichstaler (Wert von ca. 415.000 EUR im Jahr 2021) jährlich an militärische Einrichtungen des preußischen Staates zahlen, um vom Wehrdienst befreit zu sein. Ende des 18. Jahrhunderts besitzen die Mennoniten rund 20 % des Acker- und Weidelandes im Werder. Der Erfolg der mennonitischen Gemeinschaft ist dem preußische Staat ein Dorn im Auge. Es werden weitere Einschränkungen verhängt: das Verbot, Land zu erwerben, das Verbot, neue Gemeindemitglieder von außerhalb der Gemeinschaft aufzunehmen, und die Anordnung, Abgaben an die Landeskirche zu entrichten. Immer wieder leisten die Mennoniten freiwillige Zahlungen an die Krone und ihre Einrichtungen, um die Wohlgesonnenheit des Staates aufrecht zu erhalten.
Von Wehrlosigkeit zur Herausforderung
Im Jahr 1868 hebt der preußische Staat per Gesetz die Wehrfreiheit auf. Die Mennoniten stehen vor der Wahl: dem Gesetz Folge leisten, einen Kompromiss aushandeln (Dienst ohne Waffe) oder das Gesetz ablehnen und auswandern. Gerhard Penner, der Älteste der Mennonitengemeinde Heubuden, sieht die Auswanderung als einzigen Ausweg. Dies führt zu einer Spaltung der Gemeinde, wobei ein Teil, ebenso wie Mitglieder anderer Gemeinden, in die USA auswandert.
Die Zurückgebliebenen passen sich der neuen Situation an. Nun regeln nicht mehr die Ältesten die kollektive Wehrlosigkeit gegenüber der Obrigkeit, sondern jeder junge Mann muss selbst eine Entscheidung zum Dienst an der Waffe treffen. In mennonitischen Zeitschriften gewinnen Themen wie die Teilnahme am gerechten Krieg, die Pflicht, ein treuer Untertan zu sein, und die Öffnung gegenüber neuen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zunehmend an Bedeutung. Der Grundsatz der Wehrlosigkeit tritt in den Hintergrund.
Das neue Gesetz macht die Mennoniten jedoch auch zu vollwertigen Mitgliedern des Preußischen Königreichs. Alle bisherigen Einschränkungen werden aufgehoben, und sie werden ein selbstverständlicher Teil ihres Staates und drei Jahre später des neuen Deutschen Kaiserreichs.
Im 18. und 19. Jahrhundert wandern mennonitische Familien aus dem Werder in Gebiete um den Dnjepr in der heutigen Ukraine ein. Gründe für die Auswanderung sind der durch das Verbot des Landerwerbs entstandene Landmangel, die gestiegenen finanziellen Belastungen und die Unsicherheit in Bezug auf das Privileg der Wehrlosigkeit. Die Gemeinden im Werder unterstützen die Fortziehenden bei der Ansiedlung und bleiben somit in enger Verbindung. Fast jeder hat Familienangehörige im Süden des Zarenreiches.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges sind Deutschland und das Zarenreich Kriegsgegner. Bereits im Krieg unterliegt die deutsche Minderheit Repressalien. Pogrome gegen deutschstämmige Siedler beginnen und halten auch in den 1920er-Jahren an, sodass auch die Mennoniten am Dnjepr von Vertreibung, Gewalt und Tod betroffen sind und sich verzweifelt an ihre Glaubensgeschwister wenden.

Erschreckende Nachrichten erreichen die Mennoniten im Werder. Sie versuchen, ihren Angehörigen am Dnjepr in dieser Not beizustehen. So organisieren sie Sachleistungen und Unterstützung bei der Auswanderung aus der Sowjetunion. Sie wenden sich an die deutsche Regierung, um ihren Glaubensgeschwistern zu helfen.
Immer mehr wird der autoritäre Kommunismus zum Feindbild. Die politischen Unruhen und die Instabilität in der Weimarer Republik verstärken diese Sicht. So ist man besonders anfällig für das nationalsozialistische Gedankengut. Die eigene Existenz als Landbesitzer und Geschäftsleute, das Narrativ einer abgegrenzten ethnischen Minderheit und der ausgeprägte Antikommunismus sind Motive im Leben der Mennoniten im Werder, sodass der Nationalsozialismus starken Anklang findet. Dies zeigen auch Veröffentlichungen in den mennonitischen Zeitschriften der Zeit.
Wasser und Deiche
Über Generationen hinweg ist die Entwässerung und Urbarmachung der Böden im Großen Werder die wichtigste Tätigkeit, um eine Existenz zu ermöglichen. Das Land liegt meist unter dem Meeresspiegel und ist zu weiten Teilen eine Moorlandschaft. Die polnische Krone wirbt Mennoniten aus den Niederlanden wegen ihrer Wasserbau-Expertise als Siedler an, denn im Werder gibt es noch kaum Landwirtschaft. Das Privileg zur Religionsausübung wird mit den Pflichten zum Ausbau und zur Unterhaltung der Deiche verbunden.
Immer wieder wird das Werder von Überschwemmungen heimgesucht, denn das Wasser kann im Winter nur schwer abfließen, da das aufgetürmte Eis an den Mündungen der Weichsel und der Nogat den Abfluss verstopft. Das sich dadurch aufstauende Hochwasser untergräbt die Deiche, so dass es immer wieder zu Dammbrüchen kommt und sich die Wassermassen auf Hof und Felder ergießen. Kommt dann noch eine Windflaute hinzu, können die Pumpen, die von Windmühlen betrieben werden, die Felder nicht mehr entwässern.
Die ständige Verbesserung der Deiche bannt zwar die Gefahr bei kleineren Hochwassern, jedoch erhöht sie den Schaden bei größeren. Jeder Hof hält einen Kahn zur Evakuierung der Bewohner bereit. Kommt das Hochwasser, so kann man nur mit dem Kahn den Hof verlassen.

Auf diesen Poldern im Werder entsteht zunächst Weideland und die Mennoniten spezialisieren sich auf die Zucht und Haltung von Milchkühen. Sie produzieren Milchprodukte, darunter auch den regional bekannten Werder-Käse. Wird in der Anfangszeit das Land mithilfe von Windkraft entwässert, kommt es im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Einsatz von Dampfmaschinen und später Dieselmotoren. Durch die erhöhte Effizienz und dem ständigen Ausbau der Deiche kann nun auch der Grundwasserspiegel gesenkt und der fruchtbare Boden zum Anbau von Getreide und Zuckerrüben genutzt werden. Johannes beschreibt die landwirtschaftliche Entwicklung in West- und Ostpreußen in einem Artikel für die Mennonite Encyclopedia: ➚Farming Among Mennonites in West Prussia and East Prussia (externer Inhalt. Möchtest Du diesen ausführen?)

Da die Mennoniten sich als Gemeinschaft verstehen, packen sie auch gemeinschaftlich diese besondere Herausforderung an. Sie sind aufeinander angewiesen, das Land urbar zu machen, und darin sehr erfolgreich, weil dies ihrer Auffassung eines rechtschaffenen und gottgefälligen Lebens entspricht. So finden Bauern wie Johannes mit Beginn des 20. Jahrhunderts ideale Bedingungen vor. Eingebettet in ein funktionierendes System, aufgeschlossen gegenüber den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann Landwirtschaft nun im großen Stil betrieben werden. Nach seiner Flucht blickt Johannes zurück und schreibt:
Wir ließen ein fruchtbares Arbeitsfeld zurück – fruchtbar geworden durch die Jahrhunderte lang währende Kultur unserer Vorfahren. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten hatte der Staat viel Verständnis dafür gehabt, das Sumpfland des früheren Heubuden planmäßig zu entwässern. Unsere Ländereien wurden durch die letzte Ausbaggerung der Schwente während meiner Wirtschaftszeit bedeutend besser.
Leben im Zweiten und Dritten Deutschen Reich und dazwischen in der Freien Stadt Danzig
Eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs beginnt. Landwirtschaft wird zu einer Wissenschaft und so halten Mechanisierung, neue Methoden der Pferdezucht sowie der Acker- und Viehwirtschaft und Erkenntnisse über Düngemittel Einzug in die Bewirtschaftung der Höfe. Gleichzeitig wird das Verkehrsnetz des Werders ausgebaut, das den Transport der landwirtschaftlichen Güter nach Berlin, Danzig und Königsberg und somit auch an die Häfen zum Warenexport erleichtert.
1914 ziehen die meisten jungen mennonitischen Männer im ganzen Deutschen Reich in den Ersten Weltkrieg. Sie kämpfen und sterben für das Vaterland. Ein Jahr nach Kriegsende beschließen die Alliierten im Versailler Vertrag die Teilung Westpreußens. Die Gemeinden im Werder finden sich nun in drei unterschiedlichen Staaten wieder: in der Freien Stadt Danzig unter Verwaltung des Völkerbundes und Polens, im Deutschen Reich und in Polen. Heubuden gehört nun zur Freien Stadt Danzig. Johannes schreibt dazu:
Durch den Frieden von Versailles wurden wir aus dem Reichgebiete ausgeschieden und dem Gebiet der Freien Stadt Danzig zugeteilt. Politisch war die Freie Stadt Danzig dem Völkerbund unterstellt und wirtschaftlich dem polnischen Zollgebiet zugeteilt. Im Februar 1920 wurde diese Umstellung durchgeführt. Am 3. Februar 1920 verkauften wir noch das letzte Getreide der Ernte 1919 nach Marienburg [3 km entfernt, verbleibt im Deutschen Reich], unserer früheren Kreisstadt. Dann wurde die Zollgrenze an der Nogat zugemacht. Was im kleinen Grenzverkehr nicht mehr überging, musste verzollt werden oder wurde überhaupt nicht mehr durchgelassen. Die Eltern meiner Frau wohnten in Marienburg. Wir litten noch immer unter Lebensmittelmangel, konnten praktisch unsere Eltern aber nicht hungern lassen. Es wurde also geschmuggelt ohne innere Hemmungen.
Die Wirtschaft liegt am Boden, Hyperinflation setzt ein, z.B. kostete ein Brot Ende 1923 fünf Milliarden Mark. Die Bauern im Werder versuchen ihre Erzeugnisse gegen US-Dollar zu verkaufen oder zu tauschen, eine Lieferung ins Deutsche Reich ist nun ein Export. Hat Danzig im Jahr 1914 410.000 Tonnen Getreide exportiert, so sind es 1924 nur noch 178.000 Tonnen. Kredite können nicht mehr bedient werden, was besonders bei Mennoniten, die private Kredite untereinander vergeben, zu schwierigen Verhältnissen und Streit innerhalb von Familien führt.
Ende der 1920er-Jahre kommt es zu einer Erholung, so dass die Betriebe im Werder wieder wirtschaftlich produzieren können. Aber mit dem Börsencrash von 1929 in den USA verschlechtert sich die Lage wieder schlagartig. Der Versailler Vertrag wird immer mehr als ungerechtes Diktat empfunden, das Konstrukt der Freien Stadt Danzig als besondere Bestrafung der Westpreußen, und eine Befreiung aus diesen Zwängen immer deutlicher gefordert.

Als 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wird, weckt er die Hoffnung, diese Lage im Sinne der Deutschen in Westpreußen zu lösen. Nicht wenige der mennonitischen Ältesten, Prediger und Diakone in West- und Ostpreußen werden Mitglieder der NSDAP. Es wird davon ausgegangen, dass mindestens 35 % dieser Gruppe Parteimitglieder werden.
Wie den Veröffentlichungen in mennonitischen Zeitschriften der Zeit zu entnehmen ist, unterscheidet sich die Unterstützung des neuen Regimes und der nationalsozialistischen Ideologie nicht von der der Glaubensgeschwister im Deutschen Reich.
Die Zeit des Nationalsozialismus bedeutet einen Aufschwung für den deutschen Agrarsektor. Im Reichsnährstand werden die Betriebe, die meist genossenschaftlich organisiert sind, zusammengefasst und gleichgeschaltet. Sie sind nun in die Ideologie von Blut und Boden eingebunden. Vorteilhaft für die Bauern ist, dass der Reichsnährstand Abnahmemengen und Preise über Weltmarktniveau garantiert. Die Betriebe in Westpreußen profitieren von den Subventionen, besonders nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, als West- und Ostpreußen nach der Besetzung Polens und der Annexion der Freien Stadt Danzig wieder Teil des Deutschen Reiches werden.
1943 entsteht der Film Land an der Weichsel. Mitten im Krieg zeichnet der Inhaber des größten deutschen Werbe- und Kulturfilmbetriebs Boehner-Film eine heile Landschaft ganz im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda von Heimat und Eskapismus. Die vielen Infrastrukturmaßnahmen, wie der Neu- und Ausbau von Autobahnen und Eisenbahnstrecken zur Kriegsvorbereitung, werden nicht gezeigt.
Auszug aus dem Film Land an der Weichsel (externer Inhalt. Möchtest Du den Link ausführen?)
Das Ende?
Im Januar 1945 steht die Front vor der Tür. Ein chaotischer Aufbruch zur Flucht vor dem Feind beginnt. Bei Eiseskälte machen sie sich mit ihren Pferde- und Ziehwagen auf spiegelglatten Straßen und Wegen auf, um sich und ihre Lieben in Sicherheit zu bringen.
Die herannahende sowjetische Armee schließt die Menschen in Westpreußen ein. Der Kessel wird immer enger, und alle versuchen über die Ostsee zu flüchten. Die Flüchtlingstrecks kommen kaum vorwärts. Menschen sterben, verlieren sich im Getümmel, kehren in ihr Zuhause zurück und finden es geplündert und besetzt wieder. Vergewaltigungen und tätliche Angriffe sind an der Tagesordnung. Es dauert oft Jahre, bis die Überlebenden ihre Familien wieder finden und einen Neuanfang wagen können, ob in Nord- oder Südamerika oder im besetzten Deutschland bzw. später in den beiden deutschen Staaten.
Dies ist das Ende der Mennonitengemeinden im Werder, in West- und Ostpreußen. Der eiserne Vorhang fällt. Aber mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre gibt es erste Möglichkeiten für die einstmaligen Kinder und Jugendlichen wieder ihre alte Heimat zu besuchen. Es werden Fahrten nach Polen organisiert, die alten und neuen Bewohner der Höfe begegnen sich, freundschaftliche Beziehungen entstehen. Heute gibt es Vereine und Gruppen im regelmäßigen Austausch für die gemeinsame historische Aufarbeitung, für den Erhalt von Gebäuden und Friedhöfen, für Begegnungen und Reisen.