Tagebuecher Goebel

Tagebuchschreiben im Ersten Weltkrieg

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt sich das Tagebuchschreiben zu einem festen Bestandteil der bürgerlichen Kultur. Selbstreflexion und Selbstverwirklichung rücken in den Vordergrund und das Tagebuch dient dabei als Mittel, persönliche Gedanken und Gefühle festzuhalten und die sprachliche Ausdruckskraft zu schulen.

Zahlreiche Schriftsteller und Intellektuelle führen ebenfalls Tagebücher und machen diese Praxis populär. Um die Jahrhundertwende sind Kriegstagebücher aus den Reichseinigungskriegen (1864-1871) auch als Unterhaltungsliteratur beliebt. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird das Tagebuchschreiben dann zu einem weit verbreiteten Phänomen. Es ist üblich, in den militärischen Schreibstuben Truppentagebücher zu führen. Militärische und private Tagebücher ergänzen sich oft gegenseitig, insbesondere wenn eines davon verloren geht. Die Sorge um das Tagebuch ist allgegenwärtig, sei es bei Tod, Verlust oder bei Gefangennahme. Es ist anzunehmen, dass der Inhalt der Tagebucheinträge durch die Erwartung einer möglichen Zensur, entweder durch Vorgesetzte oder den Feind, beeinflusst werden.

Tagebuch Ernst Göbel
Tagebuch Ernst Göbel

Zu Kriegsbeginn gehen die Soldaten noch davon aus, eine kurze und spannende Erfolgsgeschichte zu dokumentieren, da man allgemein mit einem schnellen Sieg der deutschen Truppen rechnete – gemäß dem weitverbreiteten Motto „Weihnachten feiern wir daheim.“ Es herrschte eine veraltete und romantisierte Vorstellung des Krieges vor, die sich vor allem aus Erzählungen und Darstellungen in Schulbüchern speiste und auf den relativ kurzen und siegreichen Feldzug von 1870/71 gegen Frankreich bezog. Dieser Optimismus erweist sich jedoch als tragisch fehlgeleitet, da der Krieg noch vier weitere Jahre andauert und mancher Soldat nach dem ersten Kriegstagebuch ohne Nummerierung, dann ein 2., ein 3. und ein weiteres Heftchen füllt.

Die Schreibwarenindustrie entwickelt nun spezielle Tagebuchprodukte, die den Anforderungen des Kriegseinsatzes und dem Bedarf an „Schreiben in mobilen Zeiten“ gerecht werden. Die Hefte werden kleiner und haben einen wasserabweisenden Einband, so dass sie überall mitgeführt werden können. Es gibt vorgegebene Kriegskalender und Durchschreibebücher, die das Geschriebene direkt vervielfältigen. Nässebeständige Bleistifte ersetzen Füller, deren Tinte verwischen bzw. nachgefüllt werden müsste.

Die Schilderungen in den Tagebüchern geben häufig einen Einblick in die Alltagsroutine. Besonders auffällig ist dabei die detaillierte Beschreibung der durchfahrenen Orte und Landschaften, genaue Uhrzeiten oder Temperaturen, sei es auf dem Weg zur Front oder innerhalb bestimmter Frontabschnitte. Teilweise ähnelt das Tagebuch einem Reisenotizbuch oder einem Logbuch. Typisch sind auch Skizzen von Grabenanlagen und eine Vielzahl von Listen (Inventarlisten, Adressenlisten, Kameradenlisten, französische Vokabel-Listen, etc.).

“Briefe etc. abgeschickt”, Korrespondenzliste aus dem Tagebuch von Ernst Göbel
“Briefe etc. abgeschickt”, Korrespondenzliste aus dem Tagebuch von Ernst Göbel
Skizze Handgranate, Tagebuch Albert Krehbiel
Skizze Handgranate, Tagebuch Albert Krehbiel

Die Tagebücher bieten zudem eine sehr persönliche Perspektive auf den Krieg, die oft im Gegensatz zur offiziellen Kriegsberichterstattung und Propaganda steht. Das Tagebuchschreiben dient dazu, den Krieg greifbar und verständlich zu machen, indem die Erlebnisse durch Schreiben, Sammeln und Zeichnen festgehalten und verarbeitet werden. Die Tagebücher zeichnen oft den Unterschied zwischen den persönlichen schrecklichen Kriegserlebnis und dem gesellschaftlichem Gemeinschaftserlebnis eines gerechten Krieges. Beispielhaft für die geistig-kulturelle Mobilmachung ist der Umstand, dass in der Schule Schüler und Schülerinnen dazu angehalten wurden eigene Kriegstagebücher der „Heimatfront“ zu erstellen und durch Zeitungsausschnitte und Postkarten zu ergänzen. Die Tagebücher werden im Unterricht vorgelesen und die Eintragungen somit kontrolliert.

Die Praxis den Krieg begleitend in Tagebüchern und Erinnerungsalben zu dokumentieren war auch außerhalb der Schule weitverbreitet. Die Alben enthalten oft Fotos, Zeichnungen, Zeitungsartikel, Feldpostkarten, Gedichte und sogar eingeklebte Gegenstände wie getrocknete Blumen oder kleine Souvenirs von der Front.

“Im Falle schwerer Verwundung oder Tod“, Vermerk im Tagebuch von Erich Göbel
“Im Falle schwerer Verwundung oder Tod“, Vermerk im Tagebuch von Erich Göbel

Nach dem Tod des Soldaten sind es meist Kameraden oder Vorgesetzte, die dafür sorgen, dass seine persönlichen Gegenstände, soweit möglich, gesichert und an die zuständige Dienststelle weitergeleitet werden. Dies geschieht oft aus der Erkenntnis, dass es jeden von ihnen ebenso treffen könnte und man im eigenen Fall auf die gleiche Rücksicht hoffen würde. Die Tagebücher werden dann an die im Einband vermerkten Angehörigen zurückgeschickt. In den Familien werden die Tagebücher wie ein wertvoller Schatz gehütet. Sie bieten einen Einblick in das Leben des Verstorbenen und stehen symbolisch für seine Rückkehr nach Hause.