
Gedenkalbum Erster Weltkrieg
Das Gedenkalbum von Else Löwenberg öffnet ein einzigartiges Fenster in die Vergangenheit. Es bietet nicht nur einen persönlichen Einblick in ihre Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, sondern ist zugleich ein unschätzbares Zeitdokument der Erinnerungskultur.
Mit seinen Maßen von 50 x 38 cm ist das Album außergewöhnlich groß und besitzt einen markanten roten Einband, der von zwei schwarzen, quer verlaufenden Schmuck- oder Trauerbändern überzogen ist.
Die schwarz marmorierten, glänzenden Seiten hat Else mit einem weißen Stift beschriftet. Durch die zahlreichen aufgeklebten Schriftstücke und Fotos sind sie recht schwer, sodass weniger von Umblättern als vielmehr vom sorgfältigen und bedächtigen Umschlagen sprechen kann.
Die erste Seite des Albums trägt die Überschrift „Grüße aus dem Felde und aus der Heimat im Weltkrieg 1914–1918“.
Des Weiteren zeigt sie ein Porträt von Kaiser Wilhelm II., begleitet von einem Zitat aus seiner Reichstagsrede vom 4. August 1914: „Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche.“ Dieser Satz spiegelt den Anspruch wider, dass sich in Kriegszeiten alle politischen, sozialen und religiösen Gruppen hinter Kaiser und Vaterland zusammenstehen und wirkt als Ganzes wie ein symbolische Autogrammkarte.
Ein Blick in Elses Gedenkalbum
Aufbau und Gestaltung
Das Album umfasst über 50 individuell gestaltete Seiten, die systematisch nach den Soldaten geordnet sind, mit denen Else korrespondierte. Mehr als 20 Soldaten sind jeweils auf eigenen Seiten verzeichnet, einschließlich ihres Namens, militärischen Rangs und Heeresverbands.
Es folgen weitere Seiten, auf denen mehrere Soldaten zusammengruppiert sind, die ebenfalls namentlich genannt werden. Auffällig ist, dass Else das Album wohl erst nach dem Krieg kuratiert, da die ersten Seiten ausschließlich den im Krieg gefallenen Soldaten gewidmet sind. Else arrangiert die Postkarten und Fotografien der Soldaten, klebt sie sorgfältig ein und ergänzt sie kunstvoll mit erklärenden Überschriften.
Die Postkartenmotive reichen von klassischen Ansichten mit Denkmälern, Stadtansichten und Landschaften bis hin zu Kunstkarten. Die Motive spiegeln zweifelos auch den persönlichen Geschmack und die Interessen ihrer Abeseder wider. Gleichzeitig zeichnen die Motive oft den imaginären Reiseweg nach – von der Heimat über die Garnison bis zu den verschiedenen Orten an der Front und in der Etappe.
Besonders hervorzuheben sind Postkarten, die die durch deutsche Truppen verursachten Zerstörungen zeigen. Diese Darstellungen dokumentieren einerseits die Realität des Kriegsgeschehens, wirken jedoch zugleich durch ihre ästhetische Inszenierung seltsam emotionslos und vermitteln eine distanzierte Perspektive auf die Zerstörung.


Interessanterweise hat Else die Postkarten so eingeklebt, dass ihre Rückseiten nicht lesbar sind, es sei denn, man würde das Album beschädigen. Das Motiv der Postkarten und der ästhetische Eindruck sind für sie von größerer Bedeutung, vermutlich auch deshalb, weil die Postkarte in der Regel nur eine kurze Grußbotschaft enthielt und vor allem als Lebenszeichen diente.
Das Album enthält neben professionell aufgenommenen Fotografien auch zahlreiche private Aufnahmen: Porträts, Gruppenbilder mit Kameraden und Szenen aus dem Alltagsleben an der Front. Die privaten Front-Fotos werden mit Hand-Kameras aufgenommen, die bereits damals beliebt sind. Auffallend ist die aus heutiger Sicht oft geringe Qualität der kleinen, quadratischen Abzüge, die aber damals als wertvoller Schatz gehütet wurden. Dasselbe Bild befindet sich in verschiedenen Abzügen in so manchem Haushalt auf dem Weierhof. Auch Besuche beim Fotografen sind sehr beliebt oder Fotografen befinden sich selbst vor Ort in der Etappe. Häufig werden die Fotos dann auf Fotopapier entwickelt, das auf der Rückseite das typische Layout einer Postkarte aufweist. Somit gibt es Platz für die Empfängeradresse, eine Briefmarke und eine kurze Mitteilung.
Weitere Inhalte
Beim Weiterblättern entdeckt man mehrere Seiten mit Sammelpostkartenreihen, die Soldaten- und Kriegsmotive sowie Porträts von Heeresführern zeigen.
Dies sind vermutlich Postkarten, die Else nicht selbst erhalten hat, sondern gesammelt und anschließend thematisch passend in das Gedenkalbum eingefügt hat.


Hinzukommen im hinteren Teil des Gedenkalbums Postkarten oder Bilder von einzelnen Soldaten oder deren Bekannten, wie beispielsweise Fahrern, die Else wohl persönlich gar nicht kannte, aber deren Fotos oder Postkarten auch Eingang in das Buch fanden.
Danach folgt ein Abschnitt der mit „In der Heimat“ überschrieben ist und Fotografien aus der Kriegszeit abseits der Front zeigt: die Mobilmachung am nahegelegenen Bahnhof in Marnheim, Kriegsgefangene auf dem Weierhof und Gruppenaufnahmen aus dem Soldatenlazaretts in Ramsen, wo Else als freiwillige Pflegekraft arbeitete.
Daran schließt sich ein Abschnitt mit Feldpostbriefen, die Else erhalten, exemplarisch ausgewählt und in das Album eingefügt hat. Die Seiten der Feldpostbriefe folgen stets dem gleichen Muster: Auf der Vorderseite befindet sich Elses Anschrift, auf der Rückseite der Name des Absenders dazwischen der Inhalt eines oder mehrerer Briefe.
Für die gefallenen Soldaten wählt Else Umschläge mit offiziellen Vermerken wie „Zurück – Vermisst“ oder „Zurück – gefallen fürs Vaterland“ aus. Diese wurden an sie als Absenderin zurückgesendet. Bei anderen Soldaten handelt es sich meist um Umschläge mit einem besonderen Charakter, wie etwa dem Hinweis, dass sich der Absender im Lazarett befinde oder um Umschläge mit einem speziellen Stempel oder dem Vermerk „Geöffnet und geschlossen. Presseüberwachungszweigstelle 522“.“
Besonders ergreifend ist der Brief, den Else von Erich Göbel ausgewählt hat, in dem er ihr vom Tod Albert Krehbiels erzählt.

6. September 1916
Liebe Else,
Hier ein Lebenszeichen von mir. Ein anderer Freund wird dir keines mehr geben. Inzwischen musst du’s ja gehört haben. Ich habe unseren Albert vorgestern früh draussen auf dem blutgetränkten Schlachtfeld des Foureaux Waldes ein Heldengrab geschaufelt und bringe dir die letzten stummen Grüsse von ihm. Mich hat der gnädige Gott bewahrt. […]
Sei Du und der ganze Weierhof herzlich gegrüsst von deinem getreuen
Erich

Am Ende des Gedenkalbums – es wirkt als ob Else die letzten Seiten füllen möchte – finden sich Ausschnitte aus der Liller Kriegszeitung und deren Beilage Kriegsflugblätter, die mit ihren Erzählungen, Gedichten, Rätseln und Witzen besonders beliebt war. Die Zeitung erscheint etwa alle drei Tage, mit vier oder sechs Seiten. Sie wird kostenlos an Soldaten verteilt, während sie im Inland für 3 Mark abonniert werden kann. Auf einem der Zeitungssauschnitte hat Else „A. [Albert] Krehbiel […] Else Löwenberg 27. April 1916“ vermerkt.

Bedeutung des Gedenkalbums
Das Album zeigt eindrucksvoll, wie wichtig es Else ist, den Kontakt zu Soldaten aus ihrem Umfeld aufrechtzuerhalten und Kriegsbrieffreundschaften zu pflegen. Der Umfang und die Detailtiefe des Gedenkalbums sind bemerkenswert und belegen Elses Bemühen, die Erlebnisse und Erinnerungen an die Soldaten und die Kriegszeit für sich und vielleicht auch für die Nachwelt zu bewahren.
Aus Elses unmittelbarem Familienkreis sind ihre beiden Brüder Rudi und Otto, ihr Pflegebruder David Gallé und weitere Cousins Soldaten im Ersten Weltkrieg. Ihr Verlobter Gustav Krehbiel ist im Gedenkalbum nicht aufgeführt. Ob er vielleicht nicht als Soldat diente oder ob die Auflösung der Verlobung im Jahr 1918 eine Rolle dabei spielt, dass er in dem nachträglich angelegten Gedenkalbum keine Erwähnung findet, ist unklar. Einen besonderen Platz nehmen sicherlich die beiden Weierhöfer Erich Göbel und Albert Krehbiel ein, mit denen Else eine enge Freundschaft pflegt und intensiv korrespondiert. Beide kommen nicht aus dem Krieg zurück im Gegensatz zu Robert Brubacher, der auch nach dem Krieg im Hause Löwenberg verkehrt.



Besonders erwähnenswert sind auch die Seiten, die Robert Brubacher im Gedenkalbum gewidmet sind. Von Robert gibt es keine Postkarten und Briefe, aber viele Fotografien, die er selbst aufgenommen hat und die einen besonderen Einblick in den Soldatenalltag geben und dokumentieren nicht nur die militärische Umgebung, sondern auch die Lebensrealität im Hinterland abseits der Kampfhandlungen.
Aus heutiger Sicht wirkt Elses Gedenkalbum wie eine bewusst gestaltete Gedächtnisarbeit: Jeder Eintrag erzählt eine persönliche Geschichte, ein erlebtes Schicksal oder eine geteilte Erinnerung. Es schlägt eine Brücke zwischen den Erfahrungen an der Front und der Heimat und vermittelt zugleich einen Eindruck vom mennonitischen Zeitgeist jener Zeit – geprägt von Glauben, Vaterlandsliebe und Kriegsbegeisterung, aber auch zu Verlust, Trauer und Leid. So wird das Album zu einem eindrucksvollen Zeugnis der individuellen und kollektiven Erinnerung an den Ersten Weltkrieg.